SEMESTERERÖFFNUNGSVORTRAG 15.Okt.2002
von Peter Angermann

Liebe Studentinnen und Studenten,
verehrte Kolleginnen und Kollegen,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

im April dieses Jahres bin ich von der Städelschule in Frankfurt am Main an die AdBK in Nürnberg gewechselt, und durfte hier von Werner Knaupp eine sehr begabte und sympathische Klasse übernehmen. Ich freue mich sehr über diesen Wechsel, denn natürlich ist es für alle Beteiligten von großem Vorteil, wenn Wohnort und Arbeitsplatz möglichst nahe beieinander liegen.Wenn man nun solch einen neuen Job antritt, informiert man sich, vergleicht und nimmt alsbald auch mal die Chronik zur Hand, um sich ein wenig mit der Geschichte der ältesten, 1662 gegründeten Kunstakademie im deutschsprachigen Raum vertraut zu machen. Ich lese dort allerhand Interessantes über das Problem „Lehrbarkeit contra Freiheit der Kunst“, und dass das Zeichnen von Anfang an den Schwerpunkt der Lehre bildete.Und dann stoße ich auf folgendes: „Anlässlich einer beschmierten Mensawand, deren Initiator der Kunststudent Peter Angermann war, und den damit verbundenen Auseinandersetzungen, veranstalteten die Studenten ein Hearing in der Akademie, an dem namhafte Künstler wie Professor HAP Grieshaber, Joseph Beuys und Jürgen Claus teilnahmen, usw...

Ich könnte mir vorstellen, Sie möchten jetzt von mir genauer wissen, was damals los war, und wie es dazu kommt, dass so einer heute ausgerechnet hier Professor ist. Ist das ein Vorbild für die Studierenden? Die Vergangenheit hat mich eingeholt! Wir kennen das aus der Politik. Jetzt nur keine Fehler machen! Also:

Ich studierte zwischen 1966 und 1968 an der Nürnberger Kunstakademie in der Malklasse von Gerhard Wendland. Meine Idole waren die Expressionisten, die Maler von Brücke und Blauem Reiter, denen ich nacheiferte, bald auch ein bisschen Informell, jedenfalls Malerei mit entschiedenem Materialeinsatz. Ich war begeistert und fleißig, und als echter Künstler war ich mir natürlich schon völlig darüber im klaren, was ein gutes Bild ausmacht: Kraftvoller Gestus, spontan und selbstverliebt. Kühnes Kolorit, raffinierte Komposition... Mit anderen Worten: Ich steckte bald mitten in der Stagnation, in der Routinekrise, wie sie allen Künstlern allzu vertraut ist.

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Da erschien eines Tages ein Plakat an den Litfaßsäulen Nürnbergs. Eine Ausstellung von Pop Art im Amerikahaus mit Roy Lichtensteins „Sweet dreams, baby“. Ich war wie elektrisiert: Das also ist auch möglich! Es war als würde jemand die Fenster aufreisen. Die einen kriegten Schnupfen, die anderen Frühlingsgefühle. „Ist denn das noch Kunst?“ die einen und Jubel bei den anderen. Man stelle sich vor: Die Bildsprache des Comic, mir, als einem, der in der Gegend von Entenhausen aufgewachsen ist, bestens vertraut und ans Herz gewachsen, bis dahin aber immer von Lehrern und Eltern verteufelt, von den alten Bescheidwissern verachtet, brach sich plötzlich als künstlerische Ausdrucksmöglichkeit Bahn; die ureigenste Bildsprache unserer Generation! Und nicht nur Lichtenstein, und nicht nur der Comic, auch Warhol, Rauschenberg ...die Bildsprache der Werbung, die Fotografie, Bildsignale und Zeichen aller Art. Am meisten beeindruckte mich wohl die stilistische Unbefangenheit der amerikanischen Künstler.

Wie viel freier und interessanter war das als alles Informell! Für mich war entscheidend, dass die Homogenität des Stils, der ich mich bis dahin alteuropäisch verpflichtet meinte, die engen formalen Vorstellungen, meine eitle Handschrift, mit aller Leichtigkeit bei Seite gewischt war, und die Inspiration plötzlich wieder Raum fand. Gerade der lustvolle Stilbruch, das jonglieren mit den Bildsprachen, wurde Prinzip meiner Arbeit. Die Ideen hatten auf einmal freie Bahn. Von der Popart lernte ich, dass formale Verwerfungen ein Ausdrucksmittel sein können. Ich entdeckte das Spannungsvolle des Inhomogenen, auch der Materialvielfalt, das Spiel mit stilistischen Versatzstücken und sogar mit Inhalten.

Brainstormings nannte ich diese von der Popart inspirierten Bilder. Das ist ein Begriff aus der Werbewelt. Er beschreibt eine Kreativtechnik und bedeutet unbefangenes Assoziieren zum Zwecke der Ideenerzeugung. Man lässt, normalerweise im lockeren Gruppengespräch die Gedanken ins Kraut schießen, und lässt dabei auch völlig abwegige, unsinnige oder peinliche Einfälle zu, um einen möglichst breiten Assoziationsstrom in Gang zu bringen. Damit hofft man unerwartete Ideen bzw. Lösungswege zu finden. Dieses Prinzip legte ich meiner Arbeit zugrunde, was auf die bildende Kunst übertragen bedeutet, sich weder formal noch inhaltlich, weder stilistisch noch in der Auswahl der Mittel besonders einzuschränken. Vielmehr bediente ich mich einer größtmöglichen Vielfalt von Elementen, ließ die unterschiedlichsten Bildwelten aufeinander prallen und stellte begeistert fest, wie munter diese Quelle sprudelte.

Es liegt in der Natur des Konzepts „Brainstorming“, im Kollektiv zu arbeiten, und so veranstaltete ich schließlich auch Malpartys in meinem Atelier in der Poppenreuther Straße, einer Mischung aus Dachboden und Loft, von Pappwänden unterteilt, wo außer mir noch 5,6 Leute aus der Akademie wohnten. Dort war immer was los und die Malorgien ergaben sich wie von selbst. Die Formate wuchsen auf Wandgröße. Ein Stockwerk unter uns ging dann noch eine Abziehbilderfabrik pleite, und wir erbten Unmengen unterschiedlichster Abziehbilder, aber auch Druckfarben, Papier und sonstiges Material, und damit konnte die Sache bestens gedeihen. Es war nur konsequent, solche Veranstaltungen in die Öffentlichkeit zu tragen. Ich beschloss mit meinen Freunden ein großes Malhappening am Bahnhofsvorplatz zu veranstalten mit Einbeziehung der Passanten. Denn je mehr und je unterschiedlichere Leute mitwirkten, desto üppiger der angestrebte gestalterische Wildwuchs. Gesagt, getan, eines Vormittags im Juni 1968 zogen wir los, bewaffnet mit einer breiten Rolle Packpapier, allen möglichen Farbkübel, Pinseln, Kreiden, Stiften, Abziehbildern. Wir befestigten eine Lage Packpapier auf den Werbetafeln, legten los und animierten die Passanten mitzumachen. Viele ließen sich von unserer Begeisterung anstecken. Doch die Euphorie war nur von kurzer Dauer: Die Polizei erschien auf der Bildfläche – wollte nicht mitmalen – drohte uns vielmehr mit allem möglichen Unerfreulichen und entfernte mit wenig konservatorischem Feingefühl das unvollendete Kunstwerk. Die Frustration war groß. Wir packten unser Zeug zusammen und verzogen uns Richtung Kunstakademie – erst mal was essen. Da hockten wir dann mit unserem abgewürgten Tatendrang und mit unserem Material und guckten auf die große, leere weiße Mensawand.....

( weiß)

Ich glaube, hier wird klar, dass diese Aktion so überhaupt nichts geplantes hatte, sie war völlig spontan. Einer von uns, wenn ich mich recht erinnere war es Günther Sieber, ein hervorragender Künstler, leider schon lange tot, setzte den ersten noch zaghaften Strich – und damit war der Damm gebrochen.

Alle legten los, dass die Fetzen flogen! Im Nu überwucherte Brainstorming die gesamte Mensawand, breitete sich dann wie Efeu auch an den Seitenwänden und sogar an der Decke aus, kroch in einer 2. 3. und 4. Schicht über sich selbst hinweg, verdichtete und komplizierte sich in Atem beraubender Weise, schaffte sich wieder Luft in ruhigeren, größeren Flächen um sich gleich danach in krause Details zu steigern. Die folgenden Tage ging das immer so weiter. Eine anarchistische Orgie ungezügelten künstlerischen Gestaltungswillens. Die Qualität des Werks war ebenso umstritten und mit dem selben Frontverlauf wie bei Roy Lichtensteins „sweet dreams, baby“. So schön das alles war, es liegt im Wesen eines Instituts, sich in einem solchen Fall zu wehren. In gewisser Hinsicht handelte es sich schließlich um Sachbeschädigung. Der Großteil der Professorenschaft, die Verwaltung und auch viele Studenten formierten sozusagen die Reaktion. Eines Nachts schritt eine Truppe braver Studenten zur Tat, übertünchte unser Werk und nahm so eine Anregung Friedensreich Hundertwassers vorweg, die der uns wenig später in einem langen Solitaritätstelegramm geben sollte, falls man uns nämlich zwingen sollte neu zu tünchen, das mit möglichst verschiedenen Weißtönen zu tun, um das Lebendige zu erhalten. Als wir am nächsten Tag in der Mensa unsere Wand sahen, waren wir entzückt von dem Hauch zartester Pastellabstufungen und setzten die Arbeit unverzüglich fort. Die Angelegenheit eskalierte, es wurde mit Schadensersatzforderungen und mit Rausschmiss gedroht, was ja auch weiter kein Wunder ist. Das war die Stunde der Astaleute und politisch motivierten Studenten, denn alles fügte sich gut in den Hintergrund der Studentenunruhen, wie sie anderswo auch längst ausgebrochen waren. Sie stellten Verbindungen nach draußen her, zu den anderen Akademien und Hochschulen.

Der wachsende Druck der Akademieobrigkeit trieb uns an die Öffentlichkeit und zwang uns, Verstärkung zu holen und ein öffentliches Hearing in der Mensa zu veranstalten, zu dem wir Gott und die Welt einluden. Das Echo war beeindruckend; Sympathiebekundungen aus aller Welt. Persönlich erschienen zu dem Hearing der Kurator Manfred de la Motte, und die Künstler HA Schult , und wie schon erwähnt, Jürgen Claus , HAP Grieshaber und Joseph Beuys, der rein kam und auf dem Klavier Platz nahm. Die Mensa war rappelvoll und natürlich war auch die Presse da.

Um das Kraut fett zu machen, hatten wir auch noch einige weiße Hühner besorgt, die, nachdem sie schließlich aus ihren Käfigen freigelassen worden waren, aufgeregt zwischen den Leuten herumflatterten und sehr schön die Wichtigkeit des Ereignisses unterstrichen. So wurde mächtig viel Wind gemacht, und ein Effekt war immerhin, dass man uns danach nicht mehr ohne weiteres in die Pfanne hauen konnte, ohne als dumpfer Reaktionär dazustehen, und ohne die Unruhe von Neuem anzufachen. Man wollte kein Öl ins Feuer gießen, und so ging alles glimpflich ab.

Obwohl für mich immer der künstlerische Aspekt im Vordergrund stand und nicht der politische, muss ich betonen, dass die Situation an den Hochschulen vor 1968 sich etwas von der heutigen unterschied: Es ging schlicht undemokratisch und autoritär zu. Die nicht immer brauchbaren Vorstellungen, mit denen wir konfrontiert wurden, in Frage zu stellen kam einem Tabubruch gleich. Das Mitspracherecht wollte erst noch erkämpft werden. Wir mussten uns damals irgendwie gegen diese Bevormundung wehren, und die Mensawandbemalung gab dazu einen Anlass. Der künstlerische Aufstand kam also vor dem politischen, denn die Politisierung setzte ja erst ein, als wir uns die Freiheit bereits genommen hatten. Entscheidend ist, wir jungen Künstler hatten uns der Akademie bemächtigt, hatten sie uns zu eigen gemacht, lustvoll und frech, aber letztlich ohne etwas anderes als Eitelkeiten zu verletzen. Und die Akademieleitung mit dem damaligen Präsidenten Wunibald Puchner lenkte schließlich auch ein. Wie man sieht, lief die 68’ger Revolution im Vergleich mit anderen Akademien und Universitäten hier auf recht nette Weise ab. Spontan wurde ein großes Kunstwerk geschaffen, lange vor dem Zeitalter des Graffiti und der Sprayer, und ich freue mich sehr, heute von dieser Position aus die damalige Aktion würdigen zu dürfen. Sachbeschädigung hin oder her, ich meine, eine Kunstakademie hat eigentlich wenig Grund zur Klage, wenn sich dort zur passenden Gelegenheit künstlerischer Gestaltungswille auf derart vitale Weise Bahn bricht.

Mit dem Brainstorming als der Kreativstrategie schlechthin war ich damals im Zentrum der Modernen Kunst angekommen, im Avantgardismus, dessen erstes Anliegen die Kreativität an sich ist. So beschränkte ich mich bald nicht länger auf das Medium Malerei, sondern spielte auch mit anderen Möglichkeiten. (Erläuterung)

Im Nachhinein fällt mir auf, dass allen diesen Arbeiten eine merkwürdige Verweigerungsstrategie gemein ist. Sie geben sich ausgesprochen sperrig, behindern oft ausdrücklich den Zugang. Anders als die extrovertierten Brainstormings suchen sie kühle Exklusivität. Schmucklos wie sie sind, beziehen sie ihre Spannung aus koketter Abweisung des Publikums. Ich bediente hier aufs Anschaulichste das modernistische Missverständnis, alles was eine klare Oberfläche habe, könne nur oberflächlich sein, und umgekehrt sei die Gedankentiefe eines Kunstwerks daraus ersichtlich, wie rar es sich an der Oberfläche macht. Wer sich mit der Kunst beschäftigt, kennt diese reflexartige Gleichsetzung von Unzugänglichkeit mit Bedeutungsschwere. Damit hatte ich auch das zweite Anliegen des Avantgardismus bedient, nämlich Exklusivität herzustellen, die Unterscheidung der Eingeweihten vom Rest der Gesellschaft und somit die Heiligsprechung der Kunst. Erst später wurde mir klar, dass ich damit auch meine 68’ger Ideale einer wirklichen Pop-Kunst verraten hatte. Ich weiß, man hat solche Sachen heute immer noch, doch mir hing das bald alles zum Hals heraus, und ich musste mich neu orientieren.

Mein Lehrer Gerhard Wendland, der übrigens zu der Minderheit im Kollegium gehörte, die den damaligen studentischen Anliegen gegenüber sehr aufgeschlossen war, konnte mit diesen Arbeiten allerdings wenig anfangen, und so beschloss ich, nach dem Sommersemester 1968 zu Joseph Beuys nach Düsseldorf zu gehen.

Beuys faszinierte durch seine Radikalität. Wo bildende Künstler bis dahin nur irgendwelche Materialien als Rohstoff verwendeten, nutzte Beuys wie ein Zauberer die vorgefundene Situation selbst als Rohstoff. Er konnte das dank seiner beeindruckenden Geistesgegenwart, einer Fähigkeit, die eigentlich in der traditionellen Bildenden Kunst buchstäblich keine Bühne findet. Und so gelang es ihm, den interdisziplinären Fluxus - Ansatz besser ausschöpfen als die meisten anderen. Er erweiterte den Kunstbegriff bis zum Anschlag: „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Damit aber hat er den Kunstbegriff nicht nur erweitert, sondern ganz abgeschafft. Wie überhaupt mit der Erweiterung von Begriffen kaum jemanden gedient ist. Im Gegenteil: Ein Begriff ist umso stärker, je strenger er gefasst ist. Trotzdem schätze ich mich glücklich, in dieser Klasse gewesen zu sein und diesem großartigen Bluff beigewohnt zu haben.
Aus der Nähe gesehen hatte die Beuysklasse, dem aufklärerischen Anspruch zum Trotz, etwas unerfreulich Sektenhaftes und Überhebliches. Meine anfängliche Begeisterung wich deshalb zunehmender Skepsis und immer aggressiverer eigener Inanspruchnahme des Beuysschen Erweiterten Kunstbegriffs. Die eulenspiegelhaften Aktionen, mit denen ich den Erweiterten Kunstbegriff strapazierte und auf die Probe stellte, sind es nicht wert, gerühmt zu werden. Man könnte bestenfalls eine Art Antikunst darin sehen. Eine der harmloseren Aktionen war, dass ich mich damals selbst zum Professor ernannte und das Türschild des Ateliers entsprechend austauschte.

Es bildete sich eine Gruppe von Gleichgesinnten und nannte sich YIUP. Beuys ahnte, dass diese Clique schwierig werden könnte und ersuchte deshalb eines Tages um Mitgliedschaft. Wir würden ihn aufnehmen, aber er müsste seinem Einkommen entsprechend einen Beitrag leisten: DM 300.- monatlich.Beuys reagierte pfiffig: In Geld möchte er nicht bezahlen, aber in Naturalien: Zum Beispiel in Runkelrüben. Zur Erklärung kritzelte er dabei diese Zeichnung auf ein herumliegendes Blatt.

Das Angebot war eigentlich sehr entgegenkommend, man denke an Magrittes Pfeife. Natürlich war die Zeichnung gemeint und nicht die Rüben. Doch wir gaben ihm einen Korb mit seinen Rüben. Wir wollten uns nicht vereinnahmen lassen und bestanden stur auf cash. So wurde nichts aus seiner Mitgliedschaft.
Die YIUP-Gruppe produzierte sich zwei Semester lang an der Akademie und machte plötzlich die irritierende Erfahrung, von der Düsseldorfer Kunstwelt umso ernster genommen zu werden, je weniger sie es verdiente, je unseriöser sie sich aufführte. Statt Prügel hatten wir uns Respekt verschafft. Da wuchs unsere eigene Respektlosigkeit im selben Maße wie sie uns Respekt einbrachte. Eine befremdliche Erfahrung auf die Dauer, die schließlich auf meine völlige Abkehr von der Kunst hinauslief. Das also war das Ergebnis meines Kunststudiums. Ich resignierte als Künstler, beschloss, Physik zu studieren. Hier ein letztes Selbstportrait als resignierter Künstler.

Bald waren die avantgardistischen Ansätze in der Kunst, Fluxus, Konzeptkunst usw., salonfähig geworden, und das Neue, Unerhörte, Dionysische dieser Positionen war verbraucht. Offenbar nicht für die Kunstkonsumenten, doch für mich als Produzenten umso mehr. Die eingefahrenen Sehgewohnheiten, gegen die die alte Avantgarde Front gemacht hatte, waren längst andere geworden als zu Zeiten von Dada oder später Fluxus. Ein Urinal im Kunstmuseum ist heute eine wohl vertraute, stinknormale Angelegenheit, und nur völlig Ahnungslose können sich darüber noch aufregen. Für mich als Künstler war das Grund genug, es dabei bewenden zu lassen, und dieses Feld den Vermittlern zu überlassen, die seither bestens davon leben.

Nach fast zweijähriger Enthaltsamkeit von der Kunst und fern der offiziellen Kunstwelt, fand ich endlich einen neuen Ansatz. Die künstlerische Position, die ich bis heute vertrete. Manchmal muss man eine zeitlang in Klausur gehen oder in die Wüste, um die nötige Distanz zu finden, um eine Sache von Grund auf neu anpacken zu können.

Der nächste entscheidende Schritt jedenfalls bestand darin, das Wahre, Gute, Schöne wieder Ernst zu nehmen, denn das Wahre, Gute, Schöne, so unfassbar es sein mag, ist zu nichts anderem da, als Ernst genommen zu werden. Im Umfeld der Moderne ist das freilich eine Entscheidung von provozierender Naivität, bis auf den heutigen Tag. Durchaus noch einmal im Sinne der Popart sowie der 68’ger Sozialromantik galt es, die Malerei weitestgehend anschlussfähig zu machen, sie als Sprache zu sehen, die sich an alle wendet, nicht nur ans Fachpublikum, sie aus ihrem Elfenbeinturm zu befreien. Dazu musste sie:

1. gegenständlich sein.

2. Durfte das Literarische, Illustrative, Explizite, in der modernen Malerei zunehmend verpönt, nunmehr voll ausgespielt werden.

3. Wurde das Dekorative genussvoll rehabilitiert. Ich legte jede bildungsbürgerliche Scheu ab, mich regelrecht im schönen Schein zu suhlen.

Das war kurz gesagt das antiavantgardistische Programm der Künstlergruppe, die sich später NORMAL nannte. Außer mir gehörten dazu noch Milan Kunc und Jan Knap. Wir fassten die Malerei als eine Sprache auf, in der man sich möglichst verständlich ausdrückt, die es galt, dem breiten Publikum zurück zu geben. Zur Abwechslung mal nicht Lieschen Müller vor den Kopf zu stoßen, sondern die Fachwelt, erwies sich als sehr inspirierend. Das schlichte alt hergebrachte Bildermalen einfach wieder ernst zu nehmen, ohne jede sophistizierte Verrenkung, war eine einzige Erfrischung. Außerdem konnte der Fundus jahrhunderte alter malerischer Tradition wieder angezapft werden, ebenso wie eigene frühere Entwicklungsschritte und Erfahrungen, denn natürlich war ich, wie auch heute noch die meisten Studienbewerber, aus keinem anderen Grund zur Kunst gekommen, als dass ich mich von klein auf fürs Bildermalen begeistert hatte. Heute arbeite ich nicht von ungefähr wieder so ähnlich wie damals als Schüler, knüpfe genau an dem an, was mich ursprünglich an der Kunst begeistert hatte:

Ich gehe in die Landschaft und male pleinair. Praktisch, weil ich es liebe, das zu tun. Theoretisch sehe ich heute in der mimetischen Malerei ein Modell des Wahrnehmungsprozesses. Das Bild entsteht Schritt für Schritt aus einer Rückkopplungsschleife von Schauen und Malen, Schauen und Malen. Außenwelt wird repräsentiert, sei es im Kopf oder auf einer Leinwand. Zwischen Motiv und Farbklecks findet eine erstaunliche Codierung statt. Wer naturwissenschaftlich und philosophisch auf dem Stand der Zeit ist, wird die Brisanz und Aktualität dieses Gedankens ermessen können. Er ist tatsächlich so tief schürfend, wie sich die Kunst meist gerne gibt. Doch das ist ein weites Thema, das ich gerne bei anderer Gelegenheit im Lauf der nächsten zwei Semester vertiefen würde.

Soviel zu meinem oft etwas grobschlächtigen künstlerischen Herweg, den ich selbstverständlich nicht zur Nachahmung empfehle, denn jeder geht seinen eigenen Weg. Der künstlerische Standpunkt, den ich als Lehrer hier einbringe, dürfte damit aber klar geworden sein.

Das Wesentliche an der Bildenden Kunst wie an der Kunstakademie ist natürlich das Bilder machen, was sonst. Man macht sich ein Bild von etwas, das heißt, man nimmt wahr. In dieser Hinsicht sind tatsächlich alle Menschen Künstler. Doch das besondere an der Kunst besteht nun darin, dass man seine Wahrnehmung dezidiert mitteilt, und zwar nicht bloß ihr Resultat, sondern den gesamten Wahrnehmungsprozess, welcher aktiv und passiv zugleich ist. Der Maler beteiligt andere an seinem Wahrnehmungsprozess, den er in seiner Arbeit offen legt. So etwas ist eine großartige Aufgabe, ein Pionierjob ohne gleichen. Ich gehe soweit, zu behaupten, die Welt ist auf solch ähnliche Weise erschaffen worden. Die Evolution beruht auf dem Prinzip, dass sich Wahrnehmungspfade etabliert haben, und die Welt, die wir kennen, ist nichts fertig vorgefundenes, sondern das Zwischenresultat aller Wahrnehmung aller Lebewesen. Das Was und das Wie der Wahrnehmung ist das ganze Leben. Ein Künstler ist jemand, der seine Wahrnehmung in besonderer Weise mitteilt. Indem man malt, macht man nicht nur sichtbar was, sondern auch wie man sieht, wie das Sichtbare aus uns entsteht, auf welche Weise es sich als vorhanden erweist: Eine Dimension, die der Fotografie abgeht. Kein anderes Medium auf dieser Welt leistet das als die gute alte Malerei und Bildhauerei, wie überhaupt vom rein Visuellen abgesehen, auch die anderen alten Künste: Singen, Tanzen, Dichten, usw., allesamt weit mehr als bloß Medien sind, sondern Lebensfunktionen wie Atmen und Essen.
Ein gutes Bild liest sich wie das Protokoll seiner Herstellung: So also und nicht anders stellt sich die Sache Strich für Strich schließlich dar. Auf diese Weise also hat der Künstler das und das erfasst. Ein Kunstwerk ist nicht nur ein schnödes Endprodukt, auch wenn es heute viele darauf verkürzen, sondern es ist eine lebendige Aktion des Künstlers, an der das Publikum teilhaben kann, auch wenn es ein unbewegtes Bild und keine zeitförmige Performance ist. Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer, den ich im Mai zu einem Vortrag eingeladen hatte, sagt: „Ich bin ganz sicher, dass das Gehirn malt, wenn wir sehen, und ich bin sicher, dass das wissenschaftliche Denken mit einem malenden Schauen beginnt.“ Ich möchte dem hinzufügen: Mit Malerei und Zeichnen modellieren und kommunizieren wir seit eh und je nicht nur was wir sehen, sondern vor allem den Wahrnehmungsprozess selbst, das Sehen selbst.

Offensichtlich ist Künstler zu sein weit mehr als ein Beruf, und eine Kunstakademie alles andere als eine Berufschule oder ein Karrierekurs. Ungeachtet der gegenwärtigen Selbstüberschätzung der Kunstvermittler und der entsprechend angefochtenen Rolle der Akademien handelt es sich um eine Aufgabe von existenzieller Wichtigkeit. Eine Aufgabe dieses Kalibers kann natürlich nicht von Leuten gemeistert werden, die nur den Trends hinterher hecheln, die nichts im Sinn haben, als es den wichtigsten Ausstellungsmachern recht zu machen. Dazu braucht es Leute, die sich einen freien Blick und eigenem Verstand leisten, die, wie es Thoreau ausdrückt, „täglich ihrem Genius auf den Fersen bleiben“ - und nicht dem Großkuratoren. Denn die Nummer 1 in der Kunst sind die Künstler, also Ihr, verehrte Studentinnen und Studenten, sofern Ihr diesen Weg durchhaltet. Erst müsst Ihr Eure Arbeit tun, bevor sie ausgestellt, gut oder schlecht gehängt, verkauft, gelobt, verrissen, veröffentlicht, usw. werden kann, bevor die Vermittler zum Zuge kommen dürfen. Das klingt selbstverständlich, doch ich habe manchmal den Eindruck, als ginge es zur Zeit nicht um die Sache selbst, sondern darum, einer beliebigen Sache Geltung zu verschaffen. Aber es geht gerade um nichts anderes als um unsere ureigenste Sache, unser Hauptanliegen, um unser Werk. Dafür kommen wir hier zusammen; in Nürnberg übrigens und nicht in New York. Arbeitet daran so engagiert es nur geht und schielt nicht auf die mächtigen Kuratoren und lauten Impresarios. Die haben sich nach uns zu richten, und nicht umgekehrt.
Künstler künden mit ihrem Werk von der eigenen unabhängigen und lebendigen Wahrnehmung und nur dazu braucht man sie, sei ihre Sichtweise auch noch so verstiegen. Sie sind die ersten, etwas auf eine bestimmte Art zu sehen. Das Publikum kann sich darin mit uns solidarisieren: Den eigenen Augen zu trauen, selbst ein ästhetisches Urteil zu wagen. Künstler ist man nicht, um sich irgendwelchen ästhetischen Normen zu unterwerfen, sondern weil man auf seiner freien Wahrnehmung besteht, und Aufgabe der Akademie ist es, dem Raum zu geben, diesen hohen Anspruch zu erproben, das Werk zu ermöglichen und zu fördern. Es ist nicht Aufgabe der Akademie, dem etablierten Kunstbetrieb zuzuarbeiten und ihn zu reproduzieren.

Fazit: Die Autonomie der Kunst liegt in unseren eigenen Händen. Je opportunistischer und kleinmütiger die Künstler sind und je unsicherer und willenloser das Publikum, desto stärker sind die Vermittler, und umso feiger wiederum die Künstler. Die Akademie ist genau der Platz, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Passt sich die Akademie dagegen beflissen dem bestehenden Kunstbetrieb an, reproduziert sie selbst den Teufelskreis, dann gibt sie gerade jenen Vermittlern recht, die sie bereits für überflüssig erklärt haben. Dann bleibt von der Kunst nichts übrig als Lesestoff für die Bäckerblume:

Vielen Dank

Peter Angermann