Die Mathematik des Malers


Dem Pleinairmaler in der Landschaft an seiner Feldstaffelei, dieser anachronistisch anmutenden Gestalt fern des geschäftigen Alltagstreibens, fern der Wirtschaft, der Politik und der Kunstszene, fern aller vermeintlichen gesellschaftlichen Relevanz, diesem fool on the hill in seiner luxuriösen Abgehobenheit, stehen die zwei Grundbedingungen seines Tuns, seiner Existenz klar vor Augen.

Das sind erstens der Kontrast und zweitens das sogenannte Anthropische Prinzip.

Dass der Kontrast grundlegend ist in der Malerei, wird niemanden überraschen. Dass er aber darüber hinaus in systemtheoretischer Hinsicht ganz allgemein als Einheit des Unterschieds, als Luhmannsche Leitdifferenz, grundlegend für die Möglichkeit jeglicher Beobachtung ist, grundlegend also für die Wahrnehmung ganz allgemein und damit von allem was wir über das Dasein und die Welt sagen können, das lohnt es sich klarzumachen.
Mit Kontrast meine ich natürlich nicht nur den Hell-Dunkel-Unterschied, sondern im weitesten Sinne jeden wahrnehmbaren Unterschied. Der Kontrast ist grundlegend, weil ohne ihn nichts existierte, das irgendwie feststellbar wäre, oder auch nur denkbar, sei es in der Wirklichkeit oder in der Einbildung, draußen in der Landschaft oder hier auf der Leinwand. Auf den Punkt gebracht hat dies Wittgenstein mit seiner Aussage „Alles ist rot.“ Die impliziert nämlich, dass „rot“ in diesem Fall gar nichts ist, weil es sich von nichts unterscheidet. Erst im Kontrast zu nicht roten Dingen ist die Farbe Rot auf dieser Welt als eine besondere Eigenschaft gegeben. Sehe ich ein rotes Ziegeldach dort zwischen den Bäumen und Hügeln, quetsche ich eine Wurst Zinnober aus der Tube und streiche sie mit dem Pinsel auf die Leinwand. Das ist die simple Reproduktion einer Wahrnehmung. Der Fleck auf der Leinwand hebt sich von seiner Umgebung in gleicher Weise farbig ab wie das auch beim Ziegeldach im dunstigen Nachmittagslicht der Fall ist - ein mimetischer Akt von rührender Einfachheit. Ich liebe so was. Natürlich steht es mir auch frei, das Dach grün zu malen, mit dem Kontrast und der Mimesis zu spielen, und so meinen Spaß zu haben. Ich könnte mich auch zu einer Monochrommalerei entschließen, könnte den Kontrast so aus dem Bild selbst eliminieren und an den Bildrand verbannen. Dort könnte er weiteren Generationen von Kunsttheoretikern Anlass geben, über die Hegelsche Ablösung der Kunst durch die Philosophie oder umgekehrt nachzusinnen. Das alles ist möglich und noch viel mehr, doch wie auch immer ich mich entscheide, um den Begriff des Kontrasts komme ich nicht herum, er ist die grundlegende Vereinigung des Unterschieds, ohne die es nichts gäbe, worüber sich reden, schreiben, nicht einmal denken ließe, vom Malen ganz zu schweigen.

Die zweite meiner Grundannahmen, das Anthropische Prinzip, ist der Kosmologie entlehnt, und erscheint auf die Freiluftmalerei übertragen, direkt trivial: Damit die Landschaft gesehen und gemalt werden kann, muss prinzipiell der Maler mitsamt seiner Leinwand, den Farbtuben, Pinseln, Malmitteln, Lappen, der Palette und der Staffelei mittendrin stehen. Auch wenn er nur einen Ausschnitt malt, auf dem er gar nicht selbst zu sehen ist. Oder wenn er etwas aus der Erinnerung oder aus der Phantasie malt. Auch die vernünftige Annahme, dass die Landschaft schon längst da war, bevor der Maler auf dem Plan erschienen ist, ist nur die Extrapolation des tatsächlichen Auftritts des Beobachters und verschiebt die Zeugenschaft nur auf andere, frühere Beobachter, was im Prinzip keinen Unterschied macht.
So lautet das Anthropische Prinzip aus malerischer Sicht: Wo kein Maler, da kein Landschaftsbild. Der Beobachter ist ohne Wenn und Aber wesentlicher Teil der Welt, die er wahrnimmt und wiedergibt. Auch wenn er das meistens und meist auch aus guten Gründen gar nicht auf dem Schirm hat. Es macht letztlich jedoch schlicht keinen Sinn, von einer Welt ohne ihn auszugehen.

Hier wird wohl schon deutlich, dass meine beiden Grundannahmen, der Kontrast und das Anthropische Prinzip, aufs Engste miteinander zusammenhängen und dass sie auf eine konstruktivistische Epistemologie hinauslaufen, wie es einem Künstler ansteht.

Kontrast ist ein Begriff von sowohl höchster Anschaulichkeit als auch von weitest reichender Abstraktion. In der mystischen Ganzheitserfahrung eines synästhetischen Drogenerlebnisses ebenso wie in der technischen Codierung eines Videoclips können wir uns den reizunspezifischen Aspekt des Kontrastbegriffs vor Augen führen. Während in der alltäglichen Wahrnehmung die durch unsere Sinnesorgane vorgegebenen Kategorien oft weit auseinanderklaffen - man denke nur an die krass abweichende Ortung eines entfernten Düsenflugzeugs durch das Auge und das Ohr, wo das sichtbare Flugzeug kilometerweit vor der Schallquelle herzufliegen scheint - gibt es offenbar eine tiefere Wahrnehmungsebene, wo all dies in einer allgemeinen Kontrastverteilung zusammen fällt. Wir unterscheiden spätestens auf neuronaler Ebene nicht mehr zwischen Rot und Grün, ebenso wenig wie zwischen Blau, C-Dur, Maiglöckchenduft und Muskelkater. Und doch liegt dort gerade all diese Information implizit vor, die auf der höheren Ebene des Tagesbewusstseins explizit und auf vielfältigste und unterschiedlichste Art und Weise in Erscheinung tritt.
Ähnlich verhält es sich beim Videoclip, wo alle Bilder mit ihren Farben, ihrer Bewegung, alle Geräusche, die Musik, grundsätzlich demnächst auch haptische und olfaktorische Reize, durch den Recorder auf die Verteilung eines einheitlichen digitalen Kontrasts heruntergerechnet und binär codiert vorliegen, als eine Folge von Nullen und Einsen. Während dann umgekehrt beim Lesen und Abspielen und womöglich in der interaktiven Performance auf dem Display bald kaum mehr ein Unterschied – jedenfalls kein prinzipieller - zwischen äußerer Realität und Cyberwelt feststellbar ist. Wie die Konsoleros sagen: „Das Leben ist ein beschissenes Spiel, aber die Grafik ist hervorragend.“

Wen nun eine solche Sichtweise bei einem Maler überrascht, der sollte sich klar machen, dass ja auch zwischen dem Ziegeldach im Nachmittagsdunst und der öligen Zinnoberwurst auf einem Stück gespanntem Leinen eine ganz erhebliche und äußerst interessante Codierleistung liegt. Eine zinnoberrote Farbwurst ist nun mal kein Ziegeldach sondern bestenfalls ein Symbol dafür, welches das reale Objekt im Rahmen der Bildfläche repräsentiert. Es ist ja gerade diese oft überraschende und mehr oder weniger elegante Abstraktion, die das Malen so spannend macht und die ich an der abstrakten Malerei leider vermisse.

Die Welt also, nach dem Anthropischen Prinzip nichts anderes als unsere komplette Umgebung, zeigt sich uns jetzt reizunspezifisch auf ihre allgemeinste Form heruntergebrochen, binär codiert als einheitlicher Kontrast in einer bestimmten Verteilung, ähnlich einer schwarz-weiß gerasterten Fotografie, oder noch besser als lineare Folge von magnetischen Nullen und Einsen auf einem altmodischen Magnetband. Nicht zu vergessen: Mit Dir und mir irgendwie mitten drin. Der Abstraktionsgrad dieses binären Welt-Bilds ist allerdings derart fortgeschritten, dass sich ein mathematischer Ansatz, eben die Mathematik der Malerei, förmlich aufdrängt. Und ich zögere nicht, sie dem Kunstfreund jetzt zuzumuten.


arithmos

Die Welt als Informationsuniversum betrachtet ist ein riesiger Speicher voller Daten. Solch eine Menge von Daten ist binär darstellbar und besteht dann aus der Anordnung zweier kontrastierender Sorten von Elementen, gegeben durch die elektronischen Schaltstellungen Aus oder Ein, üblicherweise bits genannt und zur Unterscheidung mit Nullen und Einsen markiert. Sie liegen in einer bestimmten Verteilung der Reihe nach vor. Die „Topologie“ einer solchen Informationsmenge ist eindimensional, wie das Beispiel des Magnetbands recht gut veranschaulicht.

Doch was ist schon ein Magnetband, solang es nicht abgespielt wird? Eine Zeitung, die ungelesen herumliegt, oder ein Bild, das im Depot eines Museums eingelagert ist? Die Information ist wohl implizit vorhanden, als schiere Möglichkeit, doch sie findet nicht tatsächlich statt. Es braucht dazu den Prozessor, den Leser, den Kunstfreund, und wir kommen zunächst nicht umhin, diesen dem anthropischen Prinzip zum Trotz als transzendenten Gast, als einen externen Beobachter ins Spiel zu bringen, gleich einem Wechsel, den es später unbedingt wieder einzulösen gilt, da der Beobachter ja eigentlich von vornherein Teil der von ihm beobachteten Welt ist.

Solch eine strikte Trennung von Objekt und Subjekt, von Speicher und Prozessor war schon bei Charles Babbages Analytischem Automaten der entscheidende konzeptionelle Schritt, der dessen reibungsloses Funktionieren sicherte. Der cut between memory and factory und Lady Lovelace’s silent processor versperrten den drohenden Zirkelschlüssen, Paradoxien und unlösbaren Widersprüchen den verheerenden Zugang in ihr neugeborenes künstliches Gehirn. Der sagenhafte kretische Dorfbarbier nämlich, der bekanntlich genau alle Männer im Dorf rasiert die sich nicht selbst rasieren, er durfte mit eben denen keinesfalls in einen Topf geworfen werden. Das hätte zu ernsthafter Kopflosigkeit geführt. Finden auch wir uns also zunächst mit dem externen Leser, Schreiber, Beobachter, Prozessor etc ab, wie er auf seiner Metaebene säuberlich von seinem Datenmaterial abgesondert vor sich hin werkelt. Wir brauchen ihn erst mal, damit die Information sowohl gelesen, als auch geschrieben werden kann; damit Information überhaupt erst begriffen werden und stattfinden kann.
Der wird dann folgendermaßen vorgehen: Er fasst Buchstaben zu Wörtern zu Sätzen zusammen, Pinselstriche zu übergeordneten Figuren, bits zu bytes und zu größeren Komplexen und bringt nach und nach eine Gliederung ins Spiel. Kurzum, er isoliert Teilmengen, vergleicht sie und stellt ihre gegenseitigen Beziehungen fest, etwa ob sie größer oder kleiner sind, mehr Nullen oder Einsen enthalten, ob sie voneinander getrennt sind, sich berühren oder gar überschneiden. All dies sind Gegebenheiten, die in der eindimensionalen Informationsmenge zwar von Anfang an implizit vorliegen, die aber erst jetzt im Informationsprozess explizit in Erscheinung treten. Es ist unschwer zu erkennen, dass sich dadurch das ursprünglich recht übersichtliche und bescheiden dimensionierte Informationsuniversum, schlichter gesagt der Speicherinhalt, jetzt zu einem gigantischen und höchst komplexen Wust an möglichen Aspekten, zu einem wahren Relationen-Dschungel entfaltet und aufplustert.
Mathematisch ausgedrückt, haben wir durch die Einführung des Prozessors die ursprüngliche Informationsmenge letztlich in ihre Potenzmenge überführt. So nennt man die Menge aller Teilmengen einer Grundmenge. In der Potenzmenge liegen alle möglichen Relationen des Informationsuniversums vor, und einem lesend oder schreibend kombinierenden Subjekt steht es jetzt frei, dem ganzen einen irgendwie zusammenhängenden und strukturierten Text, einen Kontext zu entnehmen oder auch zu geben.

Das Bild, das statt still im Depot zu verharren gut ausgeleuchtet an der Museumswand präsentiert ist, mag ein und das selbe sein. Doch der Unterschied ist sage und schreibe augenfällig. Erst im Tageslicht der Öffentlichkeit entfaltet es sich, wenn die Harmonie oder Disharmonie seiner einzelnen Partien, seiner Komposition, seines Kolorits, voll zur Geltung kommt. Farben existieren überhaupt erst in Bezug aufeinander und im Auge eines Beobachters. Zuvor sind es tatsächlich nur Pigmente, also Chemikalien die an ihrer Oberfläche entsprechend ihrer Zusammensetzung und ihres Molekülaufbaus Licht auf spezifische Weise reflektieren, das heißt elektromagnetische Strahlung bestimmter, genau: eindimensionaler Wellenlängen. Oder auch nur eindimensionale Bitfolgen, welche erst vom Prozessor aufgeschlossen werden müssen, um als Gelb oder Blau sichtbar auf dem flachen also zweidimensionalen Display zu erscheinen.

Ist die Paste in der verschlossenen Farbtube wirklich Rot?
Lächelt die Mona Lisa auch in der Nacht?

Der Schritt von der impliziten Ordnung simpler Kontrastverteilung im Informationsuniversum bzw. im Speicher hin zur atemberaubenden Vielfalt einer Welt anschaulicher und faktisch wahrnehmbarer Verhältnisse ist – so spektakulär er wirken mag – doch nur eine Verschiebung der mathematischen Sichtweise: Von einer Grundmenge zu ihrer Potenzmenge. Oder von einem primitiven Organisationsniveau der gespeicherten Information zu einem höheren Organisationsniveau. Trivial ist dieser Schritt freilich nicht, weil wir – bzw. der externe Beobachter, der Prozessor - mit der Inanspruchnahme der Vergleichsmöglichkeit von Teilmengen, der Möglichkeit, Relationen festzustellen, einen zusätzlichen Bereich betreten haben, einen Arbeitsspeicher sozusagen, von wo aus die an sich statische Grundmenge zur freien Verfügung gestellt erscheint. Wir brauchen mehr Platz, um die Teile auffächern und ausbreiten zu können, und haben unversehens mit der Potenzmenge eine erweiterte topologische Struktur, nämlich insgesamt einen zweidimensionalen Raum, eine Fläche ins Spiel gebracht. Der Mathematiker spricht von einer größeren Mächtigkeit.


dynamis

Das Informationsuniversum bzw. der Speicherinhalt in seiner prozessualen Form ist demnach flach. Es ist eine Ebene in der sich das Netz der Beziehungen zwischen allen möglichen Teilmengen erstreckt. Wo diese Beziehungen jetzt unterschiedlich kontrastierender Gegebenheiten explizit hergestellt und manifest erscheinen können. Ich nenne diese zweidimensionale Welt „Schnittfläche“, und der einfachste der Gründe dafür ist, dass wir diese Fläche der Trennung, dem Schnitt zwischen Prozessor und Speicher verdanken. Mit dem Schnitt haben wir eine Metaebene installiert, von der aus ein vorerst externer Beobachter den Überblick über unseren Speicherinhalt gewinnt. Tatsächlich handelt es sich bei der Schnittfläche um denjenigen Bereich, der Objekt und Subjekt einer Beobachtung gleichermaßen gemein ist. Objekt und Subjekt, an sich und konzeptuell strikt getrennt in Außen- und Innenwelt, sind in genau diesem Bereich identisch. Man darf sich das naiver weise wie eine Seifenblase vorstellen, eine Sphäre, durch die hindurch der Beobachter im Inneren die Außenwelt wahrnimmt. Eine Sphäre, vielleicht zusammengesetzt aus sämtlichen Fotos, die der Beobachter ringsum in alle Richtungen aufnimmt. Und alle Wahrnehmung, alles was Subjekt und Objekt vereint, befindet sich auf dieser Fläche. Ein Aspekt, dem das englische Wort interface irgendwie besser gerecht wird als das deutsche „Schnittstelle“ oder „Schnittfläche“.

Dass das Welt-Bild in dieser immer noch recht rohen Fassung einer richtigen Bildfläche gleicht, einer Anzahl aufgespannter und bemalter Leinwände an den Wänden ringsum, hat für mich als Maler zugegeben einen besonderen Reiz. Man begegnet da noch im Schwarz-Weiß des Holzschnitts etwas ähnlichem wie dem eingangs angenommenen Grundkontrast und seiner Verteilung. Es gibt aber auch schon Farbe. Und vor allem liegen sämtliche Bildteile zugleich und auf einmal und mehr oder weniger übersichtlich vor, ringen um Beachtung und Bedeutung, steigern oder dämpfen sich untereinander. Es gibt eine abstrakte, formale Ebene rein malerischer Elemente, Striche, Kleckse etc. Und es gibt Gesten, Rhythmen, Symbole, Repräsentation, Absicht, Sinn. Die Malerei birgt offenbar keinerlei prinzipielles Hindernis, den gesamten sichtbaren Kosmos zu modellieren.
Ein gemaltes Bild gleicht in dieser Hinsicht unserer Vorstellung ganz allgemein, dem gewöhnlichen Blick jedes beliebigen Menschen auf seine Umgebung, nicht nur dem des Malers. Beides, innere Vorstellung wie materielles Bild, kommen auf eben die selbe Art und Weise zustande, durch stete Vergegenwärtigung und Modellierung einer Außenwelt, einer Umgebung mit ihren Details und deren Zusammenhang. Auf seiner Leinwand protokolliert der Maler diesen Vorgang. Eine Wahrnehmung ist nämlich keine Momentaufnahme, sondern sie wächst durch fortwährende interaktive Prüfung, Korrektur und Vervollkommnung ihres Inhalts. Sie ist ein Pingpongspiel von input und output zwischen dem Beobachter und seiner modellierten Außenwelt mit dem Ziel fortschreitender Verifizierung und Verfeinerung.

Wahrnehmung ist eigentlich das ganze Leben. Und wenn wir den Begriff nicht aufs Individuum beschränken sondern seine evolutionäre Dimension betrachten, dann ist sie die Schöpfung schlechthin. Was wahrgenommen wird, ist das Zusammenwirken der Dinge und Wesen, das wahrnehmende Subjekt stets eingeschlossen. Wir nennen es Wirklichkeit und meinen damit den relevanten Teil unserer Vorstellung, den Teil, von dem wir annehmen, dass wir nicht irren, den wir eben für wahr nehmen.
Von dieser Wirklichkeit ein einigermaßen konsistentes Stück zu erfassen, ist genauer betrachtet alles andere als einfach. Nur ein Fotoapparat kann glauben, dass es mit einem einzigen Blick getan ist. Tatsächlich bedarf es einer Unzahl von Einzelschritten, einem komplexen Hin und Her zwischen Subjekt und Objekt, mit Vorgeschichte und vor einem Hintergrund, um ein Bild erstehen zu lassen. Etwas zunächst Unbestimmtes erweckt unser Interesse. Wir lenken unsere Aufmerksamkeit darauf, wenden ihm unser Gesicht zu. Es gewinnt vage Umrisse, wir wählen Anhaltspunkte, folgen ihnen mit den Augen, gliedern, fassen zusammen, deuten und prüfen, irren und korrigieren, nähern uns der Sache, suchen Bestätigung, ändern dazu unseren Platz, unseren Blickwinkel, nehmen Zeit in Anspruch, fokussieren Details usw. So nähern wir uns mehr und mehr einer immer genaueren Vorstellung des Gegenstands, sei es im Kopf oder auf der Leinwand.
Die Beute eines jeden Augenblicks fügt sich in die immer umfassender werdende Vorstellung, präzisiert die Orientierung, die Absicht, lenkt so den nächsten Augenblick, den nächsten Pinselstrich. Wieder und wieder muss diese Schleife durchlaufen werden, bis sich das Bild behauptet.
Wer jetzt meint, das wäre nichts Neues, der hat völlig recht. Doch wer glaubt, es liefe nur auf schlichtes Sammeln und Wiedergeben von Eindrücken hinaus, der sitzt einem Missverständnis auf. Vielmehr erschließt ein solcher Ansatz eine wesentlich weiter reichende Erkenntnis: Die Natur selbst hat auf eben den rekursiven Bahnen iterativ zu ihrer Ausformung gefunden, wie ich sie gerade beschrieben habe. Sie ist das gegenwärtige Zwischenergebnis evolutionärer Wahrnehmung. In unentwegten Durchläufen von Aktivitätszyklen haben sich Mechanismen, Verhaltensweisen, Strategien der Kreaturen organisiert, und dementsprechend deren Gestalt, vom Kieselstein über den Farnwedel, den Brokkoli, den Grand Canyon, die Miss Universum bis hin zu dem vielfältigen Erscheinungsbild einer Stadt mitsamt all ihren Einwohnern. Es gibt nichts in dieser Welt, was sich nicht durch solch unablässige Einübung stabilisiert hätte, was seinen Phänotyp nicht der Gebetsmühle evolutionärer Wahrnehmung verdankte. In der Wahrnehmung begegnen sich die versprengten Subjekte, üben ihre eine und gemeinsame Wirklichkeit ein, prägen aneinander ihre individuellen Strategien und Gestalten aus.

Die jeweiligen Zwischenergebnisse dieses hehren, allumfassenden Geschehens mögen bewusstseinsbegabte Subjekte als ihre eigene Vorstellung der objektiven Außenwelt nun mehr oder weniger festhalten. Womit wir zurück sind auf dem Boden der alltäglichen Tatsachen, auf dem iterativ gewebten zweidimensionalen Teppich der wirklichen und tatsächlichen Zusammenhänge, der Relationen zwischen den Dingen und Ereignissen. Um es noch einmal zu betonen: Die Zwischenergebnisse – das Zwischenergebnis dieses Prozesses ist zweidimensional flach, wie das Beispiel meines Bildes auf der Staffelei ebenso zeigt wie die Videodatei im Arbeitsspeicher. Und weil dieser Gedanke ebenso befremdlich erscheinen mag wie er wesentlich ist, hier noch ein weiteres mal in aller Deutlichkeit:
Die objektiv gegebene Welt ist zu jedem Moment ein flaches zweidimensionales Universum. Ungeachtet des scheinbaren Widerspruchs zu der offensichtlich raum-zeitlichen also vierdimensionalen Gestalt unserer alltäglichen Umgebung einerseits wie andererseits ihrer eindimensionalen impliziten Darstellung als Bitfolge im Massenspeicher.

Dass sich dabei auch die Vielzahl der oft zutiefst unterschiedlichen Erscheinungsformen des Kontrasts aus der Annahme eines einzigen Grundkontrasts herleiten lassen soll, will sicher nicht jedem sofort einleuchten, auch wenn wir gerade mit der binären Codierung des Videoclip ein sehr handfestes und überprüfbares Beispiel vor Augen haben. Es handelt sich hierbei um das philosophische Problem der Reduzierbarkeit der Qualia. Was hat das Zirpen der Grillen, das Brummen des Motors mit dem Blau des Himmels zu tun, oder mit meinem Zahnweh? Was in unserer zweidimensionalen Welt könnte dann solche vielfältige und teils profunde Unterschiede begründen und repräsentieren? -
Diese liegen eben nicht etwa in den bits und bytes und den Teilmengen des Informationsuniversums selbst, sondern, wie ich zu zeigen versuche, in solchen Relationen zwischen den Teilmengen wie Schnitt und Inklusion usw. und den Verkettungen solcher Relationen. Welche Teilmenge A etwa eine Teilmenge B schneidet, und über welche weitere Teilmengen sie indirekt mit einer fernen Teilmenge C in Verbindung stehen mag, Überlegungen dieser Art begründen offensichtlich ein äußerst komplexes Netz an Beziehungen, ein Relationennetz, welches dann später erst recht ins Kraut schießen wird, wenn wir auch noch zirkuläre Verkettungen in Betracht ziehen. Doch auch schon ohne solche „strange loops“ dürfte die Komplexität des Relationennetzes im Gegensatz zu der Einfachheit der anfänglichen statischen Informationsmenge mit ihrem einheitlichen Grundkontrast, des Speicherinhalts, auf der Hand liegen. Die zweidimensionale Welt der Schnittfläche ist also nicht einfach aus künstlerischer Willkür so vielgestaltig, formenreich und farbig wie meine gespannte Leinwand (und darüber hinaus klangvoll und duftend und so weiter), sondern weil all dies als Möglichkeit in der Potenzmenge des Speicherinhalts bereit liegt und vom hinreichend komplexen Prozessor ausgelesen beziehungsweise eingeschrieben werden kann.

Ich habe gezeigt, dass eine solche Welt notwendigerweise zweidimensional ist. In diesem Sinn hat einige Jahrhunderte nach Heraklit, für den das Werden, der Wandel, also der Prozess die Grundlage allen Seins war, der Mathematiker Diophant die zweite Potenz „dynamis“ genannt, was einen aktiv vergleichenden Zugriff (hier des Prozessors) auf die implizite Ordnung und die starre Ruhe der ersten Potenz „arithmos“ anzeigt. Noch viel später hat Bombelli mit den Komplexen Zahlen eine zweidimensionale Algebra C2 eingeführt, angesichts deren Eleganz und praktischen Aussagekraft Mathematiker wie Physiker seither völlig zu recht ins Schwärmen geraden. Roger Penrose zeigt in seinem Buch „Der Weg zur Wirklichkeit“: Erst in der Komplexen Zahlenebene offenbaren sich tiefliegende mathematische und physikalische Zusammenhänge, fügt sich vieles erst, was in der eindimensionalen Welt der Reellen Zahlen verborgen und ungereimt bleibt. Indem Bombelli den Schritt wagte, mit einem „sinnlosen“ Terminus zu rechnen, nämlich mit der Quadratwurzel einer negativen Zahl, vereinheitlicht „i“ (für imaginär) genannt, hat er quasi den wahren Arbeitsspeicher der Mathematik erst eröffnet, einem ganz wesentlich und nicht erst per Festlegung zweidimensionalen Raum (wie es etwa die Ebene der reellen Zahlen R2 wäre). Hat er gewissermaßen die Potenzmenge der Zahlen verfügbar gemacht, die flache Welt der Relationen, der Vektoren, der Balance, des Wandels, des inhärenten Kontrasts.
Was ist hier geschehen? Die Algebra mit reellen Zahlen ist ein perfektes und abgeschlossenes formales System. Die Grundrechenarten Addition, Multiplikation, Potenzieren und ihre Umkehrungen Subtraktion, Division und Wurzelziehen sind darin frei verfügbar mit einer Einschränkung: Weil ein Produkt zweier negativer Zahlen stets eine positive Zahl ist und entsprechend auch die Potenz einer negativen Zahl, kann es keine Quadratwurzel aus einer negativen Zahl geben. Setzt man sich wie Bombelli über dieses simple Gebot des gesunden Menschenverstands hinweg und führt einen imaginären Wert „i“ für das Ergebnis der Quadratwurzel aus minus Eins ein, so sprengt man buchstäblich den Rahmen. Der bis dahin perfekte Kontext der reellen Algebra wird aufgebrochen und sie wird einer Art entkoppelten Spiegelbildes ihrer selbst gegenübergestellt. Jede Zahl wird von da an quasi doppelt als Summe einer reellen (a) und einer imaginären Komponente (bi) dargestellt, welche letztere als ein Produkt einer reellen Zahl b mit i geschrieben wird: (a+bi). Es handelt sich dabei aus meiner Sicht in der Mathematik um den ersten Fall einer expliziten Bezugnahme auf eine Meta-Ebene, um eine formale Ebenenüberschreitung, streng genommen der ersten überhaupt, bewirkt durch den „frevelhaften“ Rückgriff auf eine an sich paradoxe Rechenoperation. Dadurch war die perfekte Abgeschlossenheit der eindimensionalen Algebra durchbrochen und der bisherige Rahmen gesprengt. In der Physik hat sich dann der Nutzen dieses „Frevels“ schnell erwiesen, weil es nämlich mit einer eindimensionalen Darstellung der objektiven Realität im Allgemeinen nicht getan ist. Weil die objektive Realität eben selbst zweidimensional ist. Die Denkfigur der formalen Ebenenüberschreitung oder des Ebenensprungs ist damit erstmals auf den Plan getreten und sie wird im Folgenden noch eine hervorragende Rolle spielen.

Einen entsprechenden Übergang wie die beschriebene Eroberung der Komplexen Zahlenebene sehe ich auch in der Tätigkeit des Prozessors gegeben, wie auch beim Lesen einer Zeitung oder im Werk des Malers. Das Ausbreiten einer impliziten linearen Anordnung auf einer flachen Ebene expliziter Unterscheidungen und Zusammenhänge, in der Schnittfläche von Objekt und Subjekt, dem interface.

Und es ist nicht allein die Komplexe Algebra die auf der Ebenenüberschreitung aufbaut, auf dieser zunächst unsinnig erschienenen Zäsur eines perfekten formalen Kontexts. Wenn ich mich recht erinnere, hat Poincare die Komplexe Algebra und die Topologie als zwei Seiten ein und derselben Medaille betrachtet. Ich verstehe das so, dass definitionsgemäß die Topologie mengentheoretisch durch eine angenommene Grundmenge von Elementen gegeben ist und zwar zusammen mit deren Teilmengen. Das unterscheidet sich grundsätzlich nicht vom Vorgehen des Prozessors, die Datenmenge des Speichers zu portionieren und zu vergleichen und ebenso wenig vom Zeitungsleser der den Buchstabenwust gliedert, strukturiert und ihm letztlich Sinn entnimmt. Nicht zu vergessen den Maler, der abstrakte Kleckse und Pinselgesten zu Landschaften, Porträts und Akten fügt. All dies Vorgänge, deren Darstellung einen zweidimensionalen Raum, eine Schnittfläche, ein interface beansprucht.

Ich hoffe, damit hinreichend klar gemacht zu haben, dass aus dem untersten und ersten, dem eindimensionalen (arithmos) Organisationsniveau der Information, nämlich des schlichten Speicherinhalts nunmehr durch Einführung des Prozessors das zweite komplexe Organisationsniveau der Information (dynamis) hervor gegangen ist. Es ist dies die Plattform des Informationsprozesses, welche einen zweidimensionalen Raum erzwingt, also eine Fläche, die ich Schnittfläche oder interface nenne, weil sie Prozessor und Speicher bzw. Subjekt und Objekt des Informationsprozesses strikt auseinander hält und zugleich vereint . Das heißt, unsere Welt ist jetzt objektiv gegeben und hat im gegenwärtigen Entwicklungsstadium des Gedankens eine flache topologische Struktur. Genau genommen haben wir es eigentlich erst an dieser Stelle mit der Topologie zu tun, denn die ist wie gesagt ja erst durch eine Menge zusammen mit ihren Teilmengen gegeben.

Mathematisch versiertere Leser mögen bemerkt haben, dass ich reichlich bedenkenlos zwischen diskret strukturierten Gebilden wie dem Datenspeicher mit seiner Anhäufung von bits und andererseits kontinuierlichen Räumen wie der Schnittfläche umgesprungen bin. Das soll selbstverständlich genauer bedacht werden und das bietet die Gelegenheit, die Aufmerksamkeit wieder auf den perspektivistischen Ansatz meines Entwurfs zu lenken. Natürlich bestehen unsere Wahrnehmungsinhalte aus vielen einzelnen mehr oder weniger unterschiedlichen Eindrücken und Erfahrungen, auf neuronaler Ebene auf einzelnen Reizen, die von vornherein auf uns als Subjekt bezogen sind. Auf der Leinwand sind es die Farbkleckse, die Striche, Gesten und Details welche die diskrete Feinstruktur des Bildes darstellen. Der Zusammenhang der Elemente und Teile ist jedenfalls erst durch den informationsverarbeitenden Prozess herzustellen. Und er ist daher grundsätzlich perspektivisch. Denn einen durchgehenden Zusammenhang in der Umgebung des Subjekts zu bieten ist das Wesen der Perspektive. Das geht einher mit der Abstraktion eines Kontinuums, eines virtuellen Globalraums in dem alle an sich diskret strukturierten Wahrnehmungsinhalte eingebettet erscheinen und ihren mehr oder weniger festen Platz haben. Bei den bisherigen Überlegungen handelt es sich dabei um die zweidimensionale Schnittfläche bzw. um die Ebene des Relationennetzes als deren algebraische Form ich die Komplexe Ebene C2 betrachte. Ganz allgemein bleibt festzuhalten: Die objektiv gegebene Wirklichkeit erscheint in einem zweidimensionalen Zusammenhang.



dynamodynamis

Ich möchte nun zu dem dritten und hyperkomplexen Organisationsniveau der Information überleiten, vermittelt durch zirkuläre Informationsverarbeitung bzw. Beobachtung zweiten Grades, die den Beobachter introspektiv in die Beobachtung einbezieht. Anders gesagt, ich möchte endlich dem Anthropischen Prinzip gerecht werden und wie versprochen den externen Beobachter, Prozessor, Maler wieder zurück ins Diesseits holen, wo er natürlich unbedingt und an zentrale Stelle hingehört. Ich möchte ihm einen Möbiusteppich ausrollen und ihm ein Spencer-Brownsches re-entry bereiten.


Das wirklich aufregende an der flachen Welt der Relationen, an der Schnittfläche, ist der Umstand, dass sie unter allen möglichen Verkettungen der Relationen auch zirkuläre Zusammenhänge impliziert - Schlangen, die sich in den Schwanz beißen. Die zirkulären Zusammenhänge finden sich überall und zu jeder Zeit, doch meist gehen wir ihnen wie Babbage oder Russell sorgfältig aus dem Weg, weil sie die Ordnung in unserer Wahrnehmung ganz ernsthaft bedrohen. Die perfekte Ordnung und Konsistenz eines Wahrnehmungsinhalts ist nur gewährleistet wenn wir Zirkularität vollständig ausblenden. Solange das funktioniert haben wir es mit perfekten Objekten oder objektiven Gegebenheiten in einer tatsächlich objektiven Außenwelt zu tun, an deren Vorstellung wir festhalten und an deren Bild wir in Ruhe weitermalen können. Die wir immer mehr erweitern können und mit der wir sogar Vollständigkeit anstreben können, obwohl sie doch ohnehin in jedem Moment, in jedem ihrer Stadien definitiv perfekt ist, ob sie uns nun gefällt oder nicht. Wir können den gefährlichen Zirkelbezügen aus dem Weg gehen, ihrem Sog widerstehen und sie links liegen lassen, wo sie weiter keinen Schaden anrichten. Denn gefährlich werden sie erst dann, wenn wir uns tatsächlich auf sie einlassen und ihrer Dynamik nachgeben. Das allerdings ist unausweichlich sobald uns die zweifellos objektive Gegebenheit unserer Beobachterrolle selbst in den Fokus rückt. Wenn wir das Faktum unseres Wahrnehmungsprozesses selbst wahrnehmen. Das Anthropische Prinzip verschafft sich dann Geltung und begnügt sich mit nichts Geringeren, als sofort das gesamte Universum zur Disposition zu stellen. Die bis dahin festgefügte Ordnung der Dinge kommt ins Rutschen und unterliegt ab sofort anhaltenden sisyphushaften Restaurationsbemühungen. Denn die Rückwirkungen ständig erneuerter Informationsinhalte treiben den Wahrnehmungsprozess erbarmungslos vor sich her. Die Rückkopplung seines input und output gleicht einem Mikrophon das zu nahe an den Lautsprecher gerückt ist. Das Schockierendste dabei ist, dass dieser Zustand permanenter Raserei bei jedem von uns und zu jeder Zeit gegeben ist und der, solange wir leben kein Entrinnen kennt.
Zum Glück haben wir uns an diesen Dauerzustand gewöhnt und da er in seiner Allgegenwart so wenig kontrastiert wie Wittgensteins Rot, nehmen wir ihn an sich kaum mehr wahr, so wie ich meinen Tinnitus nur noch gelegentlich höre. Was wir aber wahrnehmen in Heraklits „Fluss, in dem alles ist“, ist der Wandel, die Unterschiede und Kontraste aller Art im Einzelnen, ist der stete Wechsel, soweit er seinerseits mit allem mehr oder weniger Dauerhaften kontrastiert. An dieser Stelle möchte ich noch einmal – und ganz im Sinne von Heraklits Relativismus – an meine frühere Feststellung erinnern, dass alles, was wir wahrnehmen können und somit alles was wir über die Welt und die Wirklichkeit sagen können, einzig durch die gegenseitigen Verhältnisse der Fakten, der Dinge und Ereignisse in Bezug auf einander gegeben ist und dass absolut nichts eine Gegebenheit an sich darstellt oder auf solch einen ewigen Seinshintergrund bezogen werden könnte. Auch der eingangs angenommene Datenspeicher, die eindimensionale Datenmenge ist nur ein Notnagel, ein Siemensscher Lufthaken, ein imaginärer Katalysator um den Gedanken daran kristallisieren zu lassen. Wir nehmen ihn ebenso wenig wahr wie das Feuern unserer Neuronen oder die Aktivitätsmuster unseres Nervensystems. Wahr sind allein die auf uns einstürmenden Sinnenreize, sprich Kontraste. Unser Welt-Bild muss im Allgemeinen darauf beschränkt bleiben, als das dargestellt zu werden, was ich mit dem etwas technischen Terminus Relationennetz bezeichnet habe. Es bildet so etwas wie einen Rahmen für alle möglichen formalen Systeme. Und meine weitere Untersuchung gilt der inneren Struktur des Relationennetzes, besonders im Hinblick auf die Zirkularität und Rückbezüglichkeit der Selbstwahrnehmung des Wahrnehmenden. Welche sage und schreibe der Grund aller Dynamik ist. Es gibt gar keine Dynamik ohne diese zirkuläre Beobachtung der Beobachtung. Es gibt überhaupt keine Welt, auch keine objektive Außenwelt, ohne diesen solipsistisch anmutenden Einstieg. Parmenides hat Recht, wenn er alle Kontraste, Unterscheidung, Wandel, alle Dynamik für Illusion erklärt, weil das Sein eins, unendlich, ewig und unteilbar sei. Die Täuschung der wir die ganze Vielfalt des Daseins verdanken heißt ironischer Weise Wahrnehmung und ihr Fundierungsparadoxon liegt in der Selbstbezüglichkeit, im Gewahr werden des Wahrnehmungsaktes selbst. Oder abstrakter ausgedrückt, in den impliziten zirkulären Strukturen des Relationennetzes.

Zum Zwecke eines Selbstportraits studiert der Maler sein Konterfei im Spiegel. Um sich auch von der Seite sehen zu können, um sich beim Beobachten zu beobachten braucht er einen zweiten Spiegel und rückt selbst zwischen beide. Er blickt nach links oder nach rechts in den virtuellen Korridor wo die Spiegelbildpaare endlos wiederholt erscheinen, wenigstens im Prinzip. Eine schiere Wiederholung der Bilder wäre kein qualitativer Sprung. Doch die Wiederholung in diesem Fall ist alles andere als simpel: Wie weit sich die einzelnen Spiegelbildpaare tatsächlich gleichen, hängt nämlich davon ab, wie weit sie zugleich fokussiert werden können. Das ist umso weniger der Fall, je genauer sie betrachtet werden. Alle unzähligen Spiegelbilder unterscheiden sich voneinander, denn schon die Veränderung der Augenstellung bei der Betrachtung der einzelnen Bilder ist jeweils unterschiedlich. Womit eine grundlegend neue Größe ins Spiel kommt die wir buchstäblich nicht in einem einzigen Augenblick, in einem Moment überblicken können. Wir wissen was ein Augenblick ist, eben ein sehr kurzes Zeitintervall, ein metaphorisch ausgedrückter Moment. Ein Moment aber ist über dieses Bild hinaus in abstrakteren Sinn und auch etymologisch eine Bewegung ohne Berücksichtigung der Dauer, sozusagen die zeitlose Ursache der Bewegung oder Veränderung. Um diesen Aspekt des Begriffs bei den folgenden Überlegungen zu betonen, möchte ich ihn in eher technischem Zungenschlag mit sachlichem Artikel verwenden: das Moment.

Das ebenenüberschreitende Moment ist durch Selbstwahrnehmung, durch die Beobachtung der Beobachtung, durch die Rückbezüglichkeit innerhalb des Relationennetzes gegeben. Es ist der Wesenskern des Subjekts und der Ursprung einer Perspektive der Selbstorganisation, einer introspektiven allgemeinen Ordnung der Wahrnehmungsinhalte.
Die „Allgemeine äußere Form der Anschauung“ wie Kant diese Ordnung nannte ist offensichtlich der Raum und die Zeit, wo alle Dinge und Ereignisse, alle Objekte unserer Wahrnehmung ihren festen Platz haben, weshalb wir beides, Raum und Zeit, selbst für objektive Gegebenheiten halten und sie als physikalische Kategorien betrachten mögen. Die Frage ist nun aber warum uns die Welt gerade in dieser vertrauten Form erscheint, als dreidimensionaler symmetrischer Raum und eindimensionale asymmetrische und gerichtete Zeit. Warum ist alles um uns herum in dieser doch sehr speziellen Art und Weise vierdimensional angeordnet. Warum nicht zum Beispiel in sechs oder in elf Dimensionen wie es die Stringtheoretiker am liebsten hätten? Eine Antwort darauf steht bis hierher noch aus, und mit Sir Archibald Wheeler bin ich mir sicher, dass sie im Rahmen der Physik nicht gegeben werden kann.
Wie schon mehrfach betont, sprechen wir, wenn von der Welt die Rede ist, letztlich immer nur von unserer Umgebung, sei die auch noch so weit gefasst. Die Vorstellung eines Alls, eines umfassenden und objektiv gegebenen Universums, eines globalen Weltraums ist bestenfalls eine Extrapolation der uns umgebenden lokalen Zusammenhänge, streng genommen aber ist sie unhaltbar. Deshalb ist die Frage nach der Topologie der Welt eigentlich die Frage nach der Topologie unserer Perspektive, der Perspektive des Beobachters. Und ihre besondere vierdimensionale und asymmetrische Struktur lässt sich genau daraus ableiten.

Hier sind wir wieder bei der Malerei angekommen, denn Perspektive ist, jedenfalls in der gegenständlichen Malerei, die Anatomie der Vorstellung, die „Verortung“ des Malers, des Betrachters, des Beobachters, des Subjekts. Die Renaissancemaler haben sich hierfür quasi schwarzmagisch an einen festen Beobachterstandort gebannt, um einen verwacklungsfreien Standpunkt einzunehmen, von dem aus sie dann mit Hilfe von Gitternetzlinien die Zentralperspektive konstruieren konnten. Ihre Umgebung zwangen sie damit in die klare Gliederung des Euklidischen Raums und verliehen durch diese Fixierung ihrer Darstellung eine zwingend suggestive Objektivität. Damit haben sie in konzeptueller Hinsicht und bereits drei Jahrhunderte vor deren chemisch-technischen Verwirklichung die Photographie erfunden.

Der heutige Maler kann sich zurücklehnen und auf all dies entspannt zurückblicken. Er ist der Welt nicht noch mehr Objektivität schuldig. Er ist mit seinem Fahrrad hierher gekommen, musste bergauf strampeln und hat es bergab laufen lassen, die Strasse entlang, durch den Schatten des Waldes, durch das Licht, die Hitze, die Düfte des Vormittags, hat hier, wo es sich eine Weile zu bleiben lohnt, seine Utensilien ausgebreitet: Alustaffelei, Leinwand, Farbkasten... Ihm ist klar gegenwärtig wo er sich befindet, was hinter der nächsten Ecke sein mag oder auch nicht. Er hat Platz genommen am Ursprung seiner Perspektive. Die Umgebung fügt sich ganz in seine Perspektive und umgekehrt. Er stellt die kleine Leinwand auf die Staffelei, quetscht das Neapelgelb aus der Tube auf die Palette, taucht den Zwölfer ins Terpentin und legt los mit seiner mimetischen Reportage.
Wenn das schon alles wäre, wäre der Maler kaum mehr als ein Fotoapparat. Er nimmt ein Bild auf. Macht einen Abzug seiner Schnittfläche mit der Außenwelt. Einen flachen, zweidimensionalen Abzug, den die Digitalkamera ohne weiteres auf eine eindimensionale Datei herunter rechnet und als Bitfolge abspeichert, wie gehabt. Von Raum oder gar Zeit keine Spur.

Doch das Anthropische Prinzip tritt aus der Kulisse und spricht: „Es gibt kein Bild ohne Maler. Es gibt keine Außenwelt losgelöst von Dir. Aus Deiner Umgebung bist Du nicht weg zu denken. Auch nicht, wenn Du das Weite suchst. Dann schon gar nicht! Nimm das zur Kenntnis!“ So spricht das Anthropische Prinzip, zwingt uns mitsamt unserer Umgebung, hinein in die Wirklichkeit, ins Leben wo wir uns wieder einmal und aufs Neue der Zirkularität der Zusammenhänge ausgeliefert sehen. Der Verstand, immer auf der Suche nach zuverlässiger formaler Konsistenz, nach manifester Klarheit der Verhältnisse, Widerspruchsfreiheit, Eindeutigkeit – er möchte das nicht und sträubt sich mächtig, dem zu sehr nachzugehen. Auch wenn seit Kurt Gödel die Existenz dieses Lochs in der Wirklichkeit bewiesen ist. Schließlich hat er für unsere Orientierung zu sorgen, und zirkuläre Schlüsse, logische Schleifen, strange loops, setzen genau diese außer Kraft, wie sogar jeder Taschenrechner weiß und gegebenenfalls reklamiert.

Doch wagen wir es hier und jetzt die Orientierung ein Moment lang dahin gestellt, das Paradox herein zu lassen, um endlich tiefer zu blicken. Wir befinden uns in einer vergleichbaren Situation wie die Mathematiker zu Bombellis Zeiten, als sie die Unmöglichkeit der Quadratwurzel einer negativen Zahl mal außen vor ließen und damit der Mathematik einen immensen Fortschritt bescherten.

Zirkularität in einem formalen System wie es allgemein das Relationennetz ist, reißt ein Loch in den festgefügten Zusammenhang und begründet ungehinderte Ebenenüberschreitung. Es ist dabei gar nicht die Frage, ob wir Zirkularität „zulassen“ oder nicht. Vielmehr ist diese implizit und von vorne herein angelegt und wird - ganz im Gegenteil - gewöhnlich eigens ausgeklammert um alltagstaugliche, lineare und monokontexturale Logik zu ermöglichen und damit Objektivität zu gewährleisten. Versagen wir uns einen Moment lang diese praktische und bewährte Gewohnheit und gönnen uns einen Blick ins Nagual, in die chaotische Welt kontingenter Unvereinbarkeit, auszuschließender Zusammenhänge, dann verlieren wir auf der Stelle und buchstäblich die Orientierung. Die linear logische Ordnung ist dahin und viele, die mir bis hierhin gefolgt sind, werden jetzt ihre Schwindelfreiheit auf die härteste Probe gestellt sehen. Es ist sicher ein künstlerisches Projekt, sich auf „die Vernunft der Metis“ einzulassen und dieser Vorstellung stand zu halten. Und es ähnelt den merkwürdigen Versuchen in meiner Kindheit, im Rasierhohlspiegel meines Vaters die Pupille genau im Fokus zu platzieren um in die Unendlichkeit zu schauen. Da gab es diesen Punkt zwischen davor und dahinter, der sich wie zwei starke gleiche Magnetpole hartnäckig jeder Annäherung widersetzte und das Bild verschwimmen ließ.

Der Maler der hinter seiner Staffelei seine Situation vom Landschaftspanorama bis hin zum aktuellen Zustand seines Bildes in eben diesem naturgetreu wiederzugeben versucht, sieht sich einer überwältigenden Kaskade sich rasend dementierenden und zugleich neu formierenden Zwischenergebnissen ausgeliefert. Nie mehr wird er dem Teufelskreis entrinnen der ihm sein Motiv in immer neuer Gestalt vor Augen führt - dem Motiv, dem er sich iterativ nähert und das er gerade dadurch ständig ändert, dem er dadurch unfassbare Plastizität verleiht und der so jedweder Orientierung verlustig geht! Wie soll so etwas auf eine Leinwand passen?
Keine Sorge – der Maler der so etwas schreibt, versucht es erst gar nicht festzuhalten. Der Aufwand wäre immens. Doch so phantastisch sich das alles anhört und so absurd diese Sisyphusarbeit tatsächlich ist – der Maler der in uns allen steckt und wahrnehmend an seiner Vorstellung arbeitet, er tut gerade dies: Er rast durch die Zwischenergebnisse seiner Vorstellung, sammelt die Augenblicke von einem flüchtigen Aspekt seiner objektiven Außenwelt zum nächsten, unentwegt von Ebene zu Ebene. Ist der Zirkel erst einmal geschlossen, gibt es kein Halten mehr.


Der Springende Punkt

Das Moment dieser Reise quer zum Stapel der Ebenen liegt wie gesagt in der grundlegenden Selbstbezüglichkeit der Eigenwahrnehmung des Beobachters. Deren Wahrnehmungsinhalt ist alles andere als eine Erfahrung oder Gegebenheit unter vielen anderen, sondern es ist die höchst brisante und primäre Erfahrung, die des Neugeborenen, so grundlegend und durchgängig, dass sie fortan ohne bewusstes Zutun im Luhmannschen Blinden Fleck verborgen bleibt und sich zum Glück im Alltag ihrer dauernden Gewahrwerdung widersetzt. In meinen bisherigen Ausführungen habe ich versucht, diesen Widerstand wenigstens theoretisch zu brechen um das Moment steter Ebenenüberschreitung zu begreifen. Es ist in meinen Augen das Urmoment und liegt aller Dynamik und Emergenz der Welt zugrunde. Schon zu Beginn bin ich davon ausgegangen, dass jede Wahrnehmung auf dem Kontrast beruht, auch da wo sie nicht selbstbezüglich ist. Der Kontrast, also die Unterscheidung, der Wandel, die Dynamik erscheint bereits da als Bedingung und fundamentale Eigenschaft der objektiv gegebenen Welt. All dies wurde zunächst als gegeben genommen. Doch der Grund dafür, das dynamische Prinzip selbst, die Quelle von Heraklits Fluss in dem alles ist, zeigt sich erst jetzt: Es ist die rekursive Selbstbezüglichkeit der Wahrnehmung, die a priori Einbeziehung des Beobachters in die Beobachtung der Welt. Sie erst ist Ursache der parmenidischen Illusion, es gäbe so etwas wie einen Wandel, eine Dynamik etc. Wie es aber scheint und wie wohl auch Parmenides es sieht, sehen wir uns dieser Täuschung tagtäglich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

An dieser Stelle relativer Dementierung meiner Ausgangspositionen darf mir der Leser ganz zurecht eine zirkuläre Argumentation vorhalten. Wir haben es in der Tat mit dem berüchtigten strange loop zu tun. Doch weil das bei dem Problem der Selbstwahrnehmung ohnehin unumgänglich ist, bewahren wir die Ruhe und verfolgen die weitere Entwicklung des Gedankens entlang der Möbiusbahn.

Ich ging also quasi von der Rohform einer objektiv gegebenen Außenwelt des Kontrasts aus, welche im Wahrnehmungsprozess allgemein eine zweidimensionale Form hat. Welche eine Schnittfläche darstellt, wie die mathematischen Konzepte der Komplexen Ebene C2 beziehungsweise die Definition der Topologie zeigen, oder in praktischer Anwendung die Datenverarbeitung etwa eines Videos im Prozessor. Alle diese Beispiele handeln von der allgemein zweidimensionalen Form der objektiv gegebenen Welt mit ihrer objektiv gegebenen dynamischen Eigenschaft. Sie handeln von der einzelnen aus dem zirkulären chaotischen Zusammenhang heraus gelösten und damit perfekten Ebene geordneter und wohl orientierter Zusammenhänge, einer Ebene des Relationennetzes, die ich auch Schnittfläche oder interface nannte. Es ist nun allerdings auch eine Ebene, die dort ein Loch bekommt wo die objektive Gegebenheit des Beobachters selbst in den Fokus rückt. Des Beobachters, welcher eine Welt oder Umgebung beobachtet der er selbst angehört. In diesem Moment, nämlich in besagten Urmoment setzt die große Reise nicht endender Ebenenüberschreitung ein. Einer umfassenden globalen Ordnung der Dinge und Ereignisse ist in diesem Moment jeder Boden entzogen, die Orientierung ist prinzipiell dahin. Die Dynamik ist absolut. Intellektuelle Resignation liegt nahe.

Doch es besteht noch Hoffnung, denn wenigstens das Urmoment bleibt offenbar bestehen, zeigt sich stabil und gestattet so einen näheren Blick in aller Gelassenheit. Zugegebenermaßen letztlich wieder durch eine insgeheim in Anspruch genommene virtuelle Metaebene der Reflexion, welche reell keineswegs zur Verfügung steht. Sowenig wie die Wurzel aus minus Eins.
Versuchen wir dessen ungeachtet, in das Modell hinein zu kriechen, die Situation introspektiv zu erfassen, statt aus dem Off eines unbeteiligten externen Beobachters: Das Moment hat eine flache Umgebung auf jedem einzelnen Level. Doch da es prinzipiell am Übergang von einem Level in den nächsten steht, bildet es immer und überall den Angelpunkt zwischen zwei Ebenen. Es befindet sich somit vermittelnd in der doppelt flachen Umgebung einer Vergangenheit und einer Zukunft. Die Hyperdynamik und Plastizität des Relationennetzes die sich daraus ergibt liegt in der steten und unumgänglichen Unterscheidung des Vorher und Nachher des perpetuierten Ebenensprungs.
Was erblickt der interne Beobachter im ewigen Urmoment? Am subjektiven Mittelpunkt des Kosmos? Wie stellt sich ihm dort seine Umgebung dar? Auf welche Weise erscheinen dort die Dinge und Ereignisse verteilt? Nicht also einfach nur wie gehabt in der wohlgeordneten, objektiven und zweidimensional flachen Umgebung der Schnittfläche. Die Perspektive dort eröffnet ZUGLEICH und im selben Moment und beständig den Blick auf die neue und unausweichlich nächst folgende Ebene. Denn das Moment der Ebenenüberschreitung, das Urmoment, der Ursprung aller Dynamik stellt ja nichts anderes dar als genau diesen steten Übergang. Es ist der springende Punkt bei unserem Thema Wahrnehmung. Es ist der sprichwörtliche springende Punkt schlechthin. Unsere Perspektive hier an diesem prinzipiell gleitenden Ursprung enthält durchgehend einen weiteren Richtungsbereich, einen zweiten Aspekt unserer Umgebung, eine janusköpfige Verdoppelung der Schnittfläche. Sie erscheint hier und jetzt zweifach planar. Wir sehen doppelt, der einfache logische Kontext ist dahin, die Wahrnehmung ist plastisch, Orientierung setzt aus, in Ermangelung einer reell gegebenen Megaebene. Unsere Perspektive mit ihrem Ursprung im ewigen Moment der Ebenenüberschreitung ist vierdimensional, unorientierbar und grundlegend dynamisch.

Das erklärt aber noch nicht, weshalb diese vier Dimensionen uns in der sonderbaren Aufteilung in eine eindimensionale und asymmetrische Zeit und in einen davon völlig verschiedenen dreidimensionalen Raum erscheinen. In zwei Größen die bei aller profunder Verschiedenheit doch physikalisch aufs innigste miteinander verbunden sind.


Die Zeit vergeht nicht

Nachdem die erstaunlichen Vorteile der Komplexen Algebra zur mathematischen Formulierung physikalischer Zusammenhänge und dabei ihre bestechende Eleganz nach und nach ins Bewusstsein der Gelehrten gedrungen war, lag es nahe, nach einer erweiterten Algebra zu suchen, welche den konkret erfahrbaren dreidimensionalen Raum der Physik wie auch der alltäglichen Anschauung direkt abbilden würde. Man suchte also nach einer dreidimensionalen Algebra, was sich jedoch als vergeblich erwies. Bis es (nicht als erstem) 1843 dem irischen Mathematiker William Rowan Hamilton bei einem Spaziergang mit seiner Frau unter der Broome Bridge in Dublin, an einem so spürbar wohl orientierten Ort, wie Schuppen von den Augen fiel: Eine vier- statt drei-dimensionale hyperkomplexe Algebra ist möglich! Sie reimt sich! Dabei tritt wie bei den Komplexen Zahlen nicht nur eine einzige imaginäre Komponente i an die Seite der reellen Zahl, sondern deren drei, i, j und k, sodass eine solche Zahl allgemein als Summe vierer Summanten geschrieben wird. Hamilton nannte diese Zahlen daher „Quaternionen“ und ihre Multiplikationsregeln ritzte er eilig in die Brückenmauer:

i2 = j2 = k2 = i j k = -1

Hamilton versuchte den Rest seines Lebens und mit mäßigem Erfolg seine neue Algebra, den vierdimensionalen Quaternionenraum Q4 als Formalismus zur Beschreibung physikalischer Zusammenhänge zu propagieren, wobei es allzu nahe lag, die reelle Komponente dieses Zahlenraums mit der Zeitachse zu identifizieren und die drei imaginären Komponenten mit dem Raum. Das allerdings scheint bis heute zum Scheitern verurteilt weil es nämlich mit dem sogenannten Signaturproblem eine schwerwiegende Ungereimtheit gibt, auf die ich weiter unten noch zu sprechen kommen muss.

Dessen ungeachtet möchte ich in gleicher Weise wie ich vorhin die Komplexe Zahlenebene als Repräsentationsplattform des Relationennetzes interpretiert habe, als allgemeine Form der Schnittfläche zwischen Objekt und Subjekt wo alle Information stattfindet, - möchte ich jetzt den Quaternionenraum mit dem Konzept der Selbstreferenz, also dem Konzept des ebenenüberschreitenden Moments verbinden und ihn so als Repräsentationsplattform des selbstbezüglichen Relationennetzes interpretieren. Ich möchte die zweidimensionale Schnittfläche in dem einen, dem Urmoment auf sich selbst beziehen, das heißt mit sich selbst zum Schnitt bringen und die Perspektive dort als Vereinigung zweier orthogonaler Schnittflächen auffassen. Die Kurve des Unendlichkeitssymbols, einer liegenden Acht, mag das veranschaulichen: Während sie an sich nur linear eindimensional ist, liegen in ihrem Schnittpunkt in der Mitte zwei Linien vor, die aufeinander senkrecht stehen. In diesem Schnittpunkt und einzig und allein dort wird die Metaebene manifest, im Fall der linearen Achterbahn die Fläche in die sie eingebettet ist.. Die selbe Manifestation der Metaebene sehe ich im Fall der rekursiv selbstbezüglichen und an sich zweidimensionalen Schnittfläche mit ihren zwei Aspekten, dem Vorher und Nachher des Ebenensprungs. Die Metaebene in welche die Perspektive des Moments dann eingebettet erscheint, ist zwei mal zwei also vierdimensional. Sie ist mathematisch etwas bedenkenlos formuliert das Selbstprodukt der Komplexen Ebene C2, nämlich der Quaternionenraum Q4.

Hamiltons Entdeckung der vierdimensionalen Algebra hatte einen interessanten Preis. Das Kommutativgesetz der Algebra, welches besagt, dass die Faktoren eines Produkts vertauschbar sind, dass also a mal b dasselbe ist wie b mal a, ist außer Kraft gesetzt. Multipliziert man zwei Quaternionen, so kommt es auf deren Reihenfolge an. Die Produkte können sich nämlich dabei unterscheiden. Für den Maler ist das weniger überraschend. Er weiß, dass ein preußisches Blau und ein blauer Preuße wenig miteinander zu tun haben. Auch macht es einen enormen Unterschied ob ich versuche, mit dem zarten Neapelgelb in den preußischblauen Grund hineinzumalen oder umgekehrt. Oder mager auf fett statt in bewährter Weise fett auf mager. Wir begegnen vielen derart asymmetrischen Verknüpfungen im Alltag. Von mehrfachen Drehungen der Gegenstände im Raum ganz besonders zu schweigen. Es ist hier eine Asymmetrie ins Spiel gekommen die ganz sicher mehr mit dem Zeitpfeil zu tun hat als der Realteil der Quaternionen. Mit Faktoren kann allgemein im Alltag nicht beliebig umgesprungen werden. Dort scheint die Kommutativität der Produktbildung eher die Ausnahme zu sein als die Regel, und so gesehen stellen die Quaternionen bei aller Unanschaulichkeit eigentlich das realistischste unter den Zahlensystemen dar, realistischer noch als selbst die Natürlichen Zahlen es sind. Merkwürdigerweise hat Gott dem Menschen die Mathematik vom abstrakten Ende her nahe gebracht.


Ich fasse zusammen:
Die Selbstwahrnehmung, also die introspektive Präsentation von Information begründet eine antikommutative und vierdimensionale Perspektive, innerhalb derer alle Informationsteile auf ein subjektives Moment dynamischer Selbstorganisation bezogen sind. Dieses Moment rekursiver Informationsverarbeitung verbindet ebenenübergreifend Aspekte des Relationennetzes, also jeweils zweidimensionale Mannigfaltigkeiten und bildet so den Ursprung einer vierdimensionalen Perspektive. Diese ist somit das Ergebnis nichtlinearer Rückkoppelung.
Die an sich subjektive Perspektive lässt sich auf verschiedene Weise zu einem Globalraum - abgelöst vom Subjekt - verallgemeinern. Die Verallgemeinerung eines subjektiv wahrgenommenen und diskret strukturierten Wirkungszusammenhangs zu einem umfassenden und stetigen Medium der Anschauung entspricht in algebraischer Formulierung dem Quaternionenraum, topologisch formuliert einem vierdimensionalen Kontinuum und physikalisch der absoluten Raum/Zeit Newtons. Oder später und eine Spur realistischer der relativistischen Raum/Zeit.
Der Quaternionenraum ist ein vierdimensionaler Vektorraum, in welchem das kommutative Gesetz der Produktbildung nicht erfüllt wird. Das Produkt a mal b zweier Quaternionen ist nicht notwendigerweise gleich dem Produkt b mal a. So wie eine komplexe Zahl aus einem reellen und einem imaginären Teil zusammengesetzt ist, so setzt sich eine Quaternion aus einem reellen und drei imaginären Teilen zusammen, und wie man den reellen Zahlenraum als sogenannten Unterkörper des Komplexen Zahlenraums ansehen kann, so diesen als einen Unterkörper des Quaternionenraums.
Dass der Quaternionenraum durchaus als Verallgemeinerung der introspektiven Informationsstruktur aufgefasst werden kann, scheint mir auch durch seine erfolgreiche praktische Anwendung in der Robotik bestätigt. Gerade auf diesem Gebiet, wo es darum geht, die Maschine autonom zu machen und sie mit ihrer Außenwelt rückzukoppeln, erweist sich diese Algebra als ganz besonders ausdrucksstark.
Der Quaternionenraum kann meiner Ansicht nach interpretiert werden als die auf sich selbst bezogene Komplexe Zahlenebene, und diese wiederum als algebraische Verallgemeinerung des Relationennetzes unserer Wahrnehmung, beziehungsweise als deren Topologie. Der Quaternionenraum entspricht so einer Globalisierung der oben beschriebenen Perspektive, indem diese von ihrem subjektiven Ursprung, dem introspektiven Moment, abgelöst betrachtet wird. (Eine Ablösung, die sie mit allen Gegenständen der Wahrnehmung gemein hat, welchen wir Dauer zuschreiben)
Anders ausgedrückt: Die asymmetrische Vierdimensionalität sowohl der Raum/Zeit unserer Anschauung, als auch des Quaternionenraums beruhen auf ein und demselben Abstraktionsschritt: Auf der Verallgemeinerung der Relationen von Relationen, der Relativität zweiten Grades, der Potenzierung der Relativität, wie sie durch rekursive Selbstbezüglichkeit gegeben ist. Der Quaternionenraum ist so gesehen die Potenzierung der Komplexen Zahlenebene. Die Raum/Zeit ist entsprechend die Potenzierung des beobachteten allgemeinen physikalischen Wirkungszusammenhangs, der Welt im Fokus des selbst mit einbezogenen Beobachters. Beidem, Raum/Zeit wie Quaternionenraum liegt die Vorstellung eines stetigen Globalraumes zugrunde, der aber streng genommen an sich nicht existiert sondern nur als Verallgemeinerung einer lokalen Perspektive aufzufassen ist, als abstrakter Raum in den die Perspektive eingebettet erscheint. Und diese objektivistische Darstellung hat ihren Preis:
Denn die Verallgemeinerung, die Globalkonzepten stets zugrunde liegt, besteht darin, dass jeweils das Subjekt, somit die Introspektion mit ihren Zirkelbezügen ausgeklammert und statt dessen behelfsmäßig ein Metastandpunkt bezogen wird. Aus diesem Grund können solche Konzepte die tatsächlich von uns, also seitens des Subjekts introspektiv festgestellten Merkmale der Perspektive gar nicht oder nur unvollständig abbilden, nämlich den Zeitpfeil und die asymmetrische Signatur der Raum/Zeit. Diese sind allein introspektiv begründet.


Das dritte Organisationsniveau der Information – dynamodynamis - ist dadurch erreicht, dass dem Anthropischen Prinzip in Gestalt des Beobachters der selbst Teil der Beobachtung ist, Raum gegeben wird. Selbstreflexion ist so nicht länger ausgeschlossen sondern im Gegenteil durchgehend inhärent. Rückkoppelung aber impliziert Plastizität. Die zirkulären Strukturen welche in solch rückbezüglicher Verkettung der Relationen liegen, die strange loops unterbrechen die formale Konsistenz des wahrgenommenen Wirkungszusammenhangs, heben die Orientierung der Schnittfläche zwischen Subjekt und Objekt auf und erzwingen die fortwährende Modifikation der Wahrnehmungsinhalte auf einer immer neuen Ebene, also eine endlos fortgesetzte Ebenenüberschreitung. Das aus diesem dynamischen Prinzip abgeleitete Moment bildet den Ursprung einer vierdimensionalen Perspektive, da es selbst den steten Übergang von Ebene zu Ebene darstellt, also eine zweifach flache Umgebung mit sich führt. Weil dieser Gedanke aus der Verbindung der beiden wahrnehmungstheoretischen Konzepte des Relativismus (Kontrast) und der Selbstbezüglichkeit (Anthropisches Prinzip) hergeleitet ist, scheint mir Diophants Bezeichnung für die vierte Potenz dynamodynamis ein sehr passender Name dafür, da er genau diesen Zusammenhang zum Ausdruck bringt.

Je nachdem wie weitgehend das Subjekt selbst aus der Beobachtung ausgeklammert bleibt, je nach Art der Verallgemeinerung und Formulierung also, lässt die Umgebung des internen Beobachters sich eingebettet in einem Quaternionenraum, eine Doppelmatrix oder in die Raum/Zeit der alltäglichen Wahrnehmung oder den Minkowskiraum der relativistischen Physik darstellen. In letzterer gründet Albert Einstein das Kontinuum des Physikalischen Wirkungszusammenhangs mathematisch auf die doppelt quadratische Grundform Q(x)=(x,x) und formuliert so die relativistische Raum-Zeit als vierdimensionalen Vektorraum über dem Vektor x (Hermann Weyl). In dieser Grundform kommt meiner Ansicht nach nichts anderes zum Ausdruck als die Rückkoppelung im Relationennetz eingebettet in die Vektorebene. Sie ist dabei allerdings anders hergeleitet als aus der von mir beschriebenen introspektiven Rückkoppelung, nämlich allein aus dem objektiv gegebenen Wirkungszusammenhang letztlich also doch unabhängig vom Beobachter. Objektiv gültige und universell überprüfbare Aussagen zu machen ist schließlich Ziel und Zweck der Physik, was leider der Nichtorientierbarkeit und der Hyperdynamik der Introspektion diametral entgegen steht. Denn, wie Roger Penrose feststellt: Reflexionsprinzipien stellen die direkte Antithese zur formalistischen Denkweise dar. Aus eben diesem Grund ist es ausgeschlossen, eine ganz wesentliche Asymmetrie der Raumzeit physikalisch zu erklären: Der Zeitbegriff der Physik kennt den fundamentalen Zeitpfeil nicht und kann ihn nur mit Ach und Krach und quasi im Nachhinein indirekt aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ableiten: Du kannst Dich nicht an einer kalten Wärmflasche wärmen.

Die unübersehbare Aufspaltung unserer vierdimensionalen Perspektive in den dreidimensionalen Raum und die eindimensionale Zeit aber ist ein auffallendes Merkmal welches einerseits der Physik mit der Alltagswahrnehmung gemein ist und andererseits vom Quaternionenraum wie der Doppelmatrix unterscheidet. Denn in letzteren sind die vier Dimensionen mehr oder weniger gleichberechtigt. Allenfalls der Realteil der Quaternionen unterscheidet sich von den drei imaginären Komponenten, was den voreiligen Schluss nahe legte, jenen mit der Zeitachse zu identifizieren und diese mit den Raumachsen. Die vier Komponenten addieren sich in (dem Globalkonzept) der Algebra jedoch einfach als positive Summanten. Bei der physikalischen wie auch der alltäglichen Raumzeit dagegen spielt die Zeit eine Sonderrolle mit entgegen gesetzten Vorzeichen wie die Raumkomponenten... womit ich auf das oben erwähnte Signaturproblem zurück komme. Während etwa im Minkowski-Raum der relativistischen Physik die Zeitkomponente nicht dasselbe Vorzeichen haben kann wie die Raumkomponenten und die Signatur sich dem entsprechend folgendermaßen darstellt: (-,+,+,+), hat der Quaternionenraum die Signatur: (+,+,+,+). Eine Identifikation des Quaternionenraums mit der physikalischen Raum/Zeit wie von Hamilton erträumt ist also nicht ohne weiteres möglich. Die Trennung von Raum und Zeit kann nicht in den abstrakten vierdimensionalen Globalkonzepten liegen mit deren Eigenschaft der Orientierbarkeit. (welche das Off einer zusätzlichen fünften Dimension als Metaebene erforderte). Sie muss sich introspektiv also unorientierbar herleiten. Aus dem gänzlich plastischen und durchgehend emergenten Wirkungszusammenhang rekursiver Selbstwahrnehmung.

Der Mathematiker Herrmann Weyl hat ein großartiges Bild dazu entworfen, das ich als Maler leider nicht auf einer einzigen Leinwand wiedergeben könnte. Ich bräuchte mindestens zwei dieser flachen Dinger, zwei der interfaces. Marcel Duchamps hat es auf einer Leinwand eher schlecht als recht versucht, doch völlig problemlos ginge es mit einer Filmkamera. Da allerdings ist es dermaßen trivial, dass es den Aufwand nicht lohnt, weil man es sich genau so gut einfach im Kopf vorstellen kann:
Der Maler steht mitten im Wald mit seiner Staffelei und malt ein Panoramabild. Es ist zwar flach, doch er beherrscht alle die Tricks räumliche Tiefe herauf zu beschwören. In allen Richtungen sind nun Bäume zu sehen. Doch die allermeisten Bäume sieht er gar nicht, weil sie von den zu vorderst stehenden verdeckt werden. Er sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Damit er mehr sehen kann muss er sich von seinem Platz entfernen. Er muss den Ursprung seiner Perspektive verlagern, muss sich dem Moment der Introspektion, ihrer Dynamik ausliefern. Dann treten auch die anderen Bäume nach und nach in Erscheinung während andere wieder verschwinden. Es gibt also unter den vier Achsen unseres introspektiven Daseins in jedem Moment jeweils eine bevorzugte in deren Richtung die Reise tatsächlich geht. Die plastische Veränderung der wahrgenommenen Welt reiht sich entlang dieser Bahn und wird dort als Geschichte wahrgenommen. Und die Geschichte schichtet die jeweils übrigen drei Achsen zusammengefasst als veränderliche Raumaspekte übereinander. Nur in der Gegenwart, nämlich im Urmoment schneiden sich alle vier Achsen. Dort sind die eindimensionale Trajektorie des beobachtenden Subjekts als gerichtete Zeit und die dreidimensionale symmetrische Restperspektive, der Raum, konkret und höchst gegensätzlich vereint. Dieser springende Punkt ist der prinzipiell dynamische Ursprung unserer Perspektive.

Im Raum der relativistischen Physik, im vierdimensionalen Minkowskiraum, bildet dieser Punkt die Spitze des Doppelkegels, wo der gesamte physikalische Wirkungszusammenhang sich bündelt. Es ist dieser Raum, bei dessen Beschreibung Hermann Weyl obiges Beispiel des Waldes verwendet und damit jedenfalls ansatzweise introspektiv argumentiert. Obwohl er im Sinne eines physikalischen und somit objektivistischen Konzepts die selbstbezüglich rekursive Wahrnehmung als Grundlage der Beobachtung natürlich ausklammert. Obwohl er also nicht konsequent und durchgehend introspektiv argumentiert, zeigt er wegen seines relativistischen Ansatzes dennoch die besondere Dynamik, die er aber schlicht als gegeben annimmt und ihre Bündelung in einem Punkt. Ihre Ursache jedoch erklärt er nicht, welche in nichts anderem als der Zirkularität der selbstbezüglich rekursiven Wahrnehmung liegt. Und aus ebendiesem Grund erklärt er auch nicht den Zeitpfeil.

Wollte man die Selbstwahrnehmung oder Beobachtung zweiten Grades, diesen Prozess der selbstorganisierten Informationsverarbeitung nun im Quaternionenraum repräsentieren, so darf man also nicht dessen Koordinaten einfach mit den Raum- oder Zeitkoordinaten identifizieren, sondern muss die Trajektorie des Subjekts als Zeitachse herauslösen und in Betracht ziehen, was die Aufhebung der Orientierbarkeit bedeutet, genauer deren Beschränkung auf den dreidimensionalen Rest. Und was sich mit der inneren zirkulären Struktur der Selbstwahrnehmung, ihrer Hyperdynamik deckt. In besagtem Signaturproblem zeigt sich nichts anderes als der Unterschied zwischen introspektiver und formalistischer Denkweise. Dasselbe gilt für den Zeitpfeil.


Künstliche Intelligenz

Die über Jahrhunderte bewährte Vorstellung einer an sich gegebenen und von unserer Beobachtung im Prinzip unabhängigen Außenwelt derart radikal in Frage zu stellen fällt auch mir alles andere als leicht. Die Annahme einer objektiv gegebenen Wirklichkeit in solch solipsistischer Weise preiszugeben und durch ein konstruktivistisches Weltbild zu ersetzen, welches von vorn herein nur unserem Kopf entspringt, mag nicht nur der Wissenschaftler sondern selbst der Künstler als ausgesprochene Zumutung empfinden. Denn der völlige Verzicht auf diese metaphysische Annahme, auf dieses rationalistische dreaming, würde letzten Endes alle Erkenntnis dementieren die wir im Laufe der Menschheitsgeschichte angesammelt haben. Wir können also gar nicht anders, als den parmenidischen Fluch auszuhalten, dass das Sein eins, ewig und unteilbar sei und dass somit aller Wandel und Unterscheidung unserer tatsächlich erfahrenen Lebenswelt, die objektive Wirklichkeit schlechthin, nichts als reine Illusion sei. Die Naturwissenschaft selbst aber ist es, die uns inzwischen zu solchen hyperrelativistischen Zugeständnissen mehr und mehr zwingt und unser Weltbild zunehmend als das bloßstellt, was es selbstverständlich ist: ein Bild. Wobei dieses Bild in konstruktivistischer Hinsicht nicht eine fertige 4-dimensionale bitmap ist, sondern eine selbstreferentiell gespiegelte, also zweifache Vektorgraphik im permanenten Entstehungsprozess.

Mein Versuch, unter diesem Aspekt eine bestimmte grundlegende physikalische Gegebenheit herzuleiten, welche die Physik selbst als die „härteste“ aller objektiv begründeten Wissenschaften nicht zu erklären vermag, nämlich die besondere vierdimensionale und asymmetrische raumzeitliche Struktur unserer Umgebung - diese doch recht spezielle Topologie der Welt - mein Versuch also mag zeigen, dass eine subjektiv konstruktivistische Ergänzung des Denkansatzes geeignet ist, rein objektiv gegebene und solchermaßen unüberbrückbare Wissenslücken zu schließen.

Ist nun damit dem stolzen Anthropozentrismus nach einer längeren neuzeitlich rationalistischen, nüchternen Durststrecke endlich eine Lanze gebrochen? Ich fürchte nein. Was nach der demütigenden und seit Kopernikus über Jahrhunderte fortschreitenden Verdrängung des Menschen aus dem Zentrum des Universums in eine zufällige und marginale Randexistenz wie ein humanistisches upgrade, wie eine Renaissance unseres Selbstbilds als Krone der Schöpfung aussehen mag, hat eine spannende Kehrseite.

Künstliche Intelligenz ist längst die Wirklichkeit. Längst sind uns auf allen möglichen Gebieten von uns selbst geschaffene automatisierte Routinen und Systeme in jedweder denkbaren Form vom Roboter bis zum bloßen Softwarekomplex weit überlegen, sei es im Schachspiel, im fast trading, im Verkehrswesen, im Drohnenkrieg, usw. Nichts worauf wir uns als intelligente Wesen je etwas zu Gute gehalten hätten kann inzwischen nicht an automatische, lernfähige und selbstorganisierende Systeme delegiert und von denen schneller, zuverlässiger und effektiver erledigt werden. Egal ob zu unserer (wessen?) Zufriedenheit oder ganz im Gegenteil. Dass wir es aber doch selbst sind, die darüber letztlich noch immer die Kontrolle behalten, erscheint zunehmend fraglich. Künstliche Intelligenz, so durchprogrammiert, festgelegt und hoch spezialisiert sie noch im Einzelnen sein mag, ist uns in ihrer vernetzten Gesamtheit bereits jetzt weit überlegen. Einzig das „Seelische“, worin wir unsere uferlos scheinende Autonomie begründet sehen ist etwas, das wir vorerst glauben, den „Maschinen“ vorenthalten zu können. Wir sehen Dämme wo keine sind. Wir glauben, dass wir der weltweiten immensen von uns selbst angehäuften, expliziten, hochgradig vernetzten, selbstorganisierenden und dynamischen Datenmenge aus objektiv gegebenen Nullen und Einsen erst noch ein ominöses Selbstsymbol einhauchen respektive verweigern müssten – könnten – bevor dieses, natürlich im strikten Gehege unserer Ansprüche und Vorstellungen, zu einem Eigenleben erweckt wäre? Womöglich auch noch in der rührend naiven Form eines Androiden, dem wir notfalls jederzeit den Stecker herausziehen könnten? Ich fürchte, da unterschätzen wir unser Geschöpf.


Ihm künftig bei seiner Programmierung noch Raum- und Zeit-Parameter extra anzulegen, können wir uns jedenfalls schon mal sparen.



Bild fertig.

Signiert und datiert:
Thurndorf, den 31. Mai 2016
Peter Angermann